Unser Gesprächspartner für die Serie «Karriere selbst gestalten» Prof. Dr. Sebastian Kernbach ist Assistenz-Professor am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen. Dort leitet er das «Life Design Lab», führt Workshops zu Life Design und betreibt Forschung zu den Auswirkungen dieser Methode unter anderem auf Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und den Umgang mit Zukunftsängsten. Und schreibt obendrein gerade ein Buch zum Thema «Life Design», in dem wir mit unserem «Praktikum Arbeitswelt 4.0» als Beispiel für ein innovatives Weiterbildungsformat vorkommen.
Life Design ist die Anwendung der Innovationsmethode Design Thinking auf die eigene Person, das eigene Leben und die eigene Karriere. Der Ansatz wurde an der Universität Stanford entwickelt und unterrichtet und etablierte sich dort unter Studierenden schnell zu einem der populärsten Kurse. Ich habe Life Design ebenfalls in Stanford kennengelernt, mich dort ausbilden lassen und habe es dann an die Universität St. Gallen gebracht, wo wir den Ansatz mittlerweile erweitert und mit positiver Psychologie und Verhaltensökonomie ergänzt haben. Daraus haben wir unseren eigenen «Life Loops» Ansatz entwickelt, wozu am 15. Oktober 2020 unser neues Buch «Life Design: Mit Design Thinking, Positiver Psychologie und Life Loops mehr von sich in das eigene Leben bringen» herauskommt.
Life Design ist nicht nur eine Problemlösungs-, sondern auch eine Problemfindungsmethode. Im Life Design möchten wir bei Herausforderungen insbesondere verstehen, was diesen zugrunde liegt, bevor wir zu schnell Lösungen dafür suchen. Das ist sicher der Kern der Life Design Methode: das Problem genau anschauen. Das gilt aber auch für unsere Wünsche und Visionen. Wenn jemand unbedingt selbständig sein möchte, oder die Vorliebe für Theaterwissenschaften in das Leben integrieren möchte, dann lohnt es sich zunächst ebenfalls zu entdecken, was dahintersteckt. Und dann auf Basis dieses empathischen, tieferen Verständnisses zu überlegen, welche kleinen Experimente oder Prototypen man ausprobieren könnte, um bestehende Annahmen zu verifizieren. Ein älterer Arbeitnehmer oder eine ältere Arbeitnehmerin, die in einem Start-up arbeiten möchte, sollte sich demnach in einem ersten Schritt fragen, was sie sich davon erhofft. Vielleicht dass das Start-up jung, modern und agil ist und man neue Methoden kennenlernt. Statt direkt zu kündigen und in ein Start-up zu wechseln, kann man überlegen, welchen kleinen Prototypen es für dieses Vorhaben gibt. Könnte man sich vielleicht mal mit einem Bekannten unterhalten, der ein Start-up führt und über das Gespräch mehr Informationen und Eindrücke erhalten? Oder könnte man für einen Tag in einem Start-up Probe arbeiten oder «shadowen»? So findet man heraus, was hinter Herausforderungen oder Wünschen steckt und kann durch Experimente versuchen, diese Ideen in das eigene Leben einzubauen, um herauszufinden, ob die Vorstellungen mit der Realität übereinstimmen.
Ein weiterer Aspekt, den Life Design von klassischem Coaching unterscheidet, ist der Umstand, dass wir in der Regel in einem Team arbeiten, das sich gegenseitig mit Wertschätzung und Neugier begegnet und dabei unterstützt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Gemeinsam werden Ideen generiert, wie man kleine Experimente umsetzen könnte, und der regelmässige Austausch mit dem Team hilft zudem, am Thema dran zu bleiben und nicht aufzugeben. Diese Wertschätzung und Neugier sind gerade am Anfang wirklich wichtig für eine Person. Egal, in welchem Alter man bestimmte Ideen entwickelt oder eine Verbindung zurück zu alten Ideen entdeckt, entgegnen wir dem im Life Design nicht mit Skepsis. Stattdessen sagen wir: «Erzähl mir mehr». Das ist der absolute Ausdruck für Wertschätzung und Neugier und das Eintrittstor, um zu verstehen, was hinter den Wünschen und Visionen steckt, und um eine Möglichkeit zu finden, diese ins Leben zu integrieren. Übrigens hat eine der kreativsten Agenturen der Schweiz mittlerweile das Konzept von «Erzähl mir mehr» in ihre Unternehmensprinzipien aufgenommen.
Wir haben insgesamt acht Life Design Prinzipien aufgestellt, die dabei helfen, aus bekannten und vielleicht nicht förderlichen Denkmustern oder -fallen herauszutreten. Ein ganz klassisches Denkmuster ist das dichotomische «Entweder-oder»-Denken. Wenn man beispielsweise in einer Anstellung ist, es einem nicht gefällt und man von etwas anderem träumt, sieht man oft nur die Möglichkeiten «Kündigen oder Bleiben». Und wir wollen als Life Designer dieses dichotomische Denken durch differenziertes Denken ersetzen: In diesem Fall also herauszufinden, was genau am aktuellen Job stört. Ist es vielleicht zur Arbeit zu pendeln, stören einen die Arbeitskolleg*innen, die Arbeitszeiten oder Inhalt der Arbeit? Und welche kleinen Experimente gibt es, um das anzupassen? Wir hatten beispielsweise jemanden bei uns, den das Pendeln zur Arbeit sehr gestört hat und haben dann festgestellt, dass er eine lang vergessene Liebe für Musik aus der Kindheit hat. Er hat dann verschiedene Apps auf seinem Tablett ausprobiert, um eigene Musik zu produzieren und hat mittlerweile ein passendes Programm gefunden. Und so wurde das lästige Pendeln für ihn zu einem virtuellen, mobilen Musikstudio. Er hat sich gute Kopfhörer gekauft und geniesst inzwischen diese «Me-Time» im Zug sehr.
Ein zweites Prinzip im Life Design ist, Entscheidungen nicht auf Basis von Annahmen zu fällen, sondern diese durch die kleinen Experimente zu verifizieren, also auf Basis echter Erlebnisse. Wenn man das echte Erlebnis nicht nachstellen kann, dann kann man sich zumindest mit Personen aus einem bestimmten Bereich unterhalten, um sich ein klareres Bild zu verschaffen.
Ausserdem möchten wir wegkommen von der Art und Weise, wie Berufswechsel häufig portraitiert werden. Zum Beispiel das Bild der ehemals erfolgreichen Anwältin aus New York, die jetzt ein Bed & Breakfast in Italien führt. Das sind Geschichten, die manchmal gezeigt werden, jedoch in 99.9% der Fälle nicht realistisch sind oder die damit verbundenen Schwierigkeiten ausblenden. Deshalb ist das dritte Denkmuster im Life Design, schrittweise vorzugehen, anstatt diese heroischen, drastischen Wechsel anzustreben. Das geht einher mit geringerem Risiko in Bezug auf Zeit, Geld und auf die eigenen Emotionen.
Einer unserer Teilnehmenden war ein erfolgreicher Marketing-Manager bei einer Schweizer Versicherung und privat ein Outdoor-Fan. Er hatte irgendwann das Bedürfnis, diese zwei Seiten zu verbinden und seine Fähigkeiten in eine Outdoor-Firma einzubringen, hat seinen Job bei der Versicherung gekündigt und bei einer Outdoor-Firma angefangen. Das Produkt hat dann zwar gestimmt, ihm hat die Arbeitskultur aber leider überhaupt nicht gefallen und so ist er schliesslich wieder zurück zur Versicherung gegangen. Diese manchmal dysfunktionalen Prinzipien, die man im Kopf hat, können eben auch zu schlechten Entscheidungen und zu negativen Veränderungen führen.
Das sind für mich die drei wichtigsten Elemente des Life Design Mindset. Die Liste geht natürlich noch weiter und kann auch in unserem Buch nachgelesen werden.
Man kann gleich anfangen. Ich würde jedoch empfehlen, sich ein Life Design Team zu suchen und den Prozess zumindest zu zweit, im besten Fall zu dritt oder zu viert zu durchlaufen. Denn ich hatte schon Leute im Kurs, die sich Bücher zu Life Design gekauft und alle Übungen allein gemacht haben, jedoch trotzdem nicht weiterkamen. Deshalb würde ich mir ein Team suchen, das, ganz wichtig, diese Haltung von gegenseitiger Wertschätzung und Neugier einnimmt. Wir konnten in Studien zeigen, dass sich die Wertschätzung und Neugier, die ich gegenüber anderen zeige, tatsächlich über die Zeit auch auf das eigene Verhalten überträgt und wir mithilfe dieser «Self-Compassion» auch wohlwollender und offener mit uns selbst umgehen.
Im besten Fall kauft man sich natürlich auch unser Buch :), in dem man hilfreiche Methoden findet, die einen durch den Prozess führen. Oder man besucht zu Beginn einen unserer Workshops, um die Methoden und mögliche Kandidaten für ein Life Design Team kennenzulernen. Das müssen übrigens nicht unbedingt die besten Freunde sein. Manchmal öffnet man sich Personen, denen man nicht so nahesteht, wesentlich leichter.
Ja, auf jeden Fall! Ich denke insbesondere für Personen in der zweiten Lebenshälfte ist das sehr geeignet, weil wir gewisse Glaubenssätze in uns haben, die uns das Leben lang begleiteten. «Schuster bleib bei deinen Leisten», «das Leben ist kein Wunschkonzert» und dergleichen. Diese Glaubenssätze halten uns oftmals davon ab, Neues zu tun und Veränderungen zu wagen. Als Jugendliche ist das noch ein bisschen einfacher und man macht ganz unbedarft irgendwo eine Schnupperwoche. Für ältere Menschen heisst es dagegen manchmal: «Was willst du jetzt noch mit einem Praktikum?» Deshalb ist es für ältere Menschen umso wertvoller, diese Wertschätzung und Neugier gegenüber der eigenen Visionen zu erfahren und sie dabei zu unterstützen, diesen auf den Grund zu gehen und sie in kleinen Schritten umzusetzen. Man muss eben nicht kündigen und grosse Risiken eingehen, um diesen Visionen näher zu kommen. Ich denke, dass das besonders wichtig ist. Insbesondere wenn man unter Umständen Angst hat, sich von einer guten Stelle kommend irgendwo neu zu bewerben. Stattdessen kann man einige Sachen auch nebenher machen und ausprobieren.
Im Life Design verstehen wir unter «Prototypen» Erlebnisse oder auch Gespräche mit Personen, die diese Erlebnisse schon gemacht haben. Prototypen kommen ja eigentlich aus dem Produkt-Design. Wenn ich einen Stuhl entwickle, dann mache ich zunächst einen Prototypen, lasse einen Nutzerin darauf sitzen und frage, wie sich das Material anfühlt, ob die Lehne bequem ist etc. Mithilfe dieser Prototypen versucht man zu lernen und das Produkt iterativ weiterzuentwickeln. Im Life Design kommt Prototypen eine ganz besondere Bedeutung zu, denn sie liefern den Mehrwert, Annahmen zu einem gewissen Job, gewissen Tätigkeiten oder zu einem gewissen Lifestyle oder Hobby zu testen. Man versucht also, über ein Erlebnis diese Annahmen zu verifizieren.
Wir hatten mal eine Studentin, die unbedingt Tierärztin werden wollte, da ihr vor allem die Vorstellung vom Umgang mit Tieren so gefiel. Sie hat dann ein Praktikum bei einem Tierarzt gemacht und dabei gemerkt, dass der Tierarzt viel Zeit vor dem Computer verbringt, um beispielsweise Röntgenbilder anzuschauen. Er kommunizierte ausserdem viel mit den Tierhaltern und verbrachte schlussendlich relativ wenig Zeit mit den Tieren. So hat der Prototyp in Form eines Praktikums ihr ermöglicht, den Alltag eines Tierarztes selbst zu erleben und besser einschätzen zu können. Prototyping ist also sehr wichtig, da es dabei hilft, Annahmen zu testen und die eigene Vision auf gesunde Art ins Leben zu integrieren oder Herausforderungen in kleinen Schritten zu bewältigen.
Ich kann Prototyping wirklich nur empfehlen, um besser zu verstehen, was hinter einem Wunsch steckt. Am besten macht man das im Team und überlegt, was man noch heute Abend oder morgen früh machen kann, um das im Kleinen zu realisieren. Es kann auch helfen, bei all diesen Aktivitäten Dinge visuell darzustellen. Beispielsweise den Wunsch in einen kleinen Kreis auf der Mitte eines Papiers aufzuschreiben, dann einen Kreis darum zu zeichnen und darin aufzuschreiben, was dahinterstecken könnte. Danach kann man einen weiteren Kreis drum herumziehen und sich fragen, welche Prototypen es dafür gibt. Wir nennen das als Methode «Quadratur des Kreises», die auch bei uns im Buch beschrieben wird.
Bei Unternehmen ist das wirklich sehr unterschiedlich. Die einen machen Life Design in der ganz klassischen Karriere- und Laufbahnberatung. Die zugrundeliegende Methode Design Thinking wird aber auch in der kreativen Problemlösung und bei Diversity & Inclusion Themen angewendet, weil sich die Teams dabei auf Augenhöhe mit Wertschätzung und Neugier begegnen.
Bei einem meiner Kunden ging es um die Definition von Karrierezielen. Eine Mitarbeiterin hatte den Wunsch, Führungskraft zu werden. Da hat mein Kunde dieser Mitarbeiterin erstmal angeboten, einen Tag lang im Leadership zu arbeiten, bevor sie eine 2-jährige Weiterbildung beginnt und erst danach merkt, ob es wirklich etwas für sie ist.
Bei einer Kreativagentur haben die Mitarbeitenden Life Design zuerst auf sich selbst angewendet und in einem zweiten Schritt auch auf den Arbeitskontext. Eine Frage dabei war zum Beispiel «Wie können wir unser wöchentliches Meeting relevanter und interessanter gestalten?»
Bei einer Bank ging es darum, die Empathie, die man im Life Design gegenüber sich selbst und den Teammitgliedern zeigt, auch im Kontakt mit KundInnen einzubringen – statt lediglich zu versuchen, Produkte zu verkaufen. Hier wurde also mithilfe von Design Thinking versucht, die KundInnen entlang deren Customer Journey zu analysieren und zu verstehen, wo es in der Vergangenheit Investitionsentscheide gab, wo diese in Zukunft gefällt werden und wie man als Dienstleister darauf antworten könnte. Um diese Fragen zu beantworten, haben wir mit Testkunden Gespräche geführt und so die Methoden direkt auf den Kunden angewendet.
Da muss ich sagen, dass es sehr unterschiedlich ist. Das hat fast gar nichts mit dem Alter zu tun. Es hängt vielmehr mit der Persönlichkeit und dem Charakter zusammen. Personen, die kreativ und neugierig sind und Lust auf Entdeckungen haben, machen das von sich aus und sind intrinsisch motiviert. Egal, ob sie 20 oder 60 Jahre alt sind. Andere Personen, die schon länger unter ihrer aktuellen Situation leiden und immer mehr Druck zur Veränderung spüren, lassen sich auch begeistern – einfach, weil sie ihre Lage ändern möchten. Wenn Leute in den Life Design Prozess gezwungen werden, wird es oft schwierig, weil sie fast schon einen Widerstand gegenüber der Veränderung entwickeln oder schlicht keine Lust haben, sich mit sich oder anderen zu beschäftigen.
Mein ältester Teilnehmer bisher war 75 Jahre alt und das war überhaupt kein Thema. Wenn die Offenheit besteht, sich selbst und anderen mit Wertschätzung und Neugier zu begegnen, dann kann man mit Life Design wirklich in jedem Alter etwas bewegen. In unserem Lab führen wir unter anderem das Projekt «Design Your Retirement» durch, wo es darum geht, die eigene Pensionierung zu designen. Es gibt also wirklich keine Altersgrenze.
Viele glauben, dass es beim Life Design einen Vorteil bringt, wenn man mit dem besten Kumpel zusammenarbeitet. Oft kommen die Leute dann aber nach der ersten Übung darauf, dass es mehr Sinn macht, sich mit jemanden zusammenzutun, der sich noch kein Bild gemacht hat und bei dem man nicht gegen das eigene Image antreten muss. So kann man auch Sachen sagen, die völlig schräg sind. Zum Beispiel der Investment Banker, der heimlicher Manga-Fan ist und das mehr ausleben möchte. Homogenität und Vertrautheit im Life Design Team sind also nicht unbedingt zielführend.
Life Design ist die Anwendung der Innovationsmethode Design Thinking auf das Leben und die Karriere. Und ein zentraler Gedanke von Design Thinking, und damit auch von Life Design, ist in heterogenen Teams zu arbeiten. Das ist auf den ersten Blick vielleicht anstrengender, aber am Ende des Tages profitiert man wirklich davon, da man ganz andere Perspektiven bekommt. In einem heterogenen Team sind manche Personen möglicherweise völlig fachfremd und stellen «naive» Fragen, die dazu führen, dass man sich und die eigenen Annahmen erklären muss und sich dadurch selbst bewusster wird. Abschliessend kann ich sagen: Life Design ist kein Soloprojekt, sondern ein Teamsport. Und es ist kein einmaliger Prozess, sondern eine fortlaufende Aktivität. Life Design kann man das ganze Leben lang anwenden, insbesondere in Zeiten der Transformation: am Ende des Studiums, im Übergang von einer längeren Arbeitslosigkeit ins Berufsleben oder vom Berufsleben in den Ruhestand.
Buch «LIFE DESIGN», Sebastian Kernbach und Martin J. Eppler, 270 Seiten, Kartonierter Einband, 1. Auflage 2020