Als Erwachsener noch einmal etwas ganz Neues lernen? Das geht einfacher als gedacht. Unser Gehirn lässt sich nämlich trainieren, genau wie ein Muskel. Ein Leben lang, bis ins hohe Alter. Statt Sudoku oder Kreuzworträtsel dürfen es auch gern komplexere Aufgaben sein. Für mehr Lebensqualität – oder gleich für den beruflichen Neustart.
Anfangs klang es schief und krumm. Inzwischen kann es sich hören lassen, wenn die Dame aus der Wohnung über mir Kontrabass spielt. Mit Ende 60 bestellte sie sich eine Musiklehrerin ins Haus. Von Bedenken, dass sie für so ein kompliziertes Instrument zu alt sein könnte, keine Spur. Inzwischen hat sich meine Nachbarin einem Orchester angeschlossen, empfängt selbst Musikschüler, schreibt eigene Stücke. Sie ist ein Paradebeispiel dafür, dass man auch im fortgeschrittenen Alter etwas Neues lernen kann. Und dass kreative Schaffensfreude nicht allein der Jugend vorbehalten ist. Genau wie Giuseppe Verdi, der seine Otello-Oper mit 73 komponierte – im gleichen Alter war Thomas Mann, als er den «Felix Krull» zu Papier brachte.
Richard Strauss wurde 85 Jahre alt, Goethe und Victor Hugo jeweils 83, Michelangelo 89 und Tizian gar 99. Ob es Zufall ist, dass viele Komponisten, Dichter und Maler so lange gelebt haben? Man weiss es nicht. Fest steht, dass es für Künstler in den Jahren jenseits der 50 oft erst richtig losgeht – man denke an Picassos Spätwerk. Es spricht also nichts dagegen, in der Lebensmitte noch einmal durchzustarten. Auch und gerade, wenn es sich um bis dato ungelebte Dinge handelt. Unser Gehirn freut sich, wenn wir es mit Input füttern: Hirnzellen können sich bis ins hohe Alter immer wieder neu vernetzen und damit die Strukturen generieren für völlig neue Lernerfahrungen und Fähigkeiten. Das heisst, dass man sich jederzeit auch ohne Vorerfahrungen getrost an unbekannte Disziplinen heranwagen kann.
Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie an der Uni Bremen, macht vor allem drei Faktoren für unsere Hirnleistung verantwortlich: Gene, Umwelt und Übung. Wobei die Gene und die Umwelt, der wir als Säugling ausgesetzt waren, etwa mit 30 bis 40 Prozent ins Gewicht fallen. Den Rest haben wir selbst in der Hand. «Die kognitive Leistungsfähigkeit lässt sich durch Training steigern», sagt Roth. Man muss übrigens nicht gleich zu so einem komplexen Instrument wie dem Kontrabass greifen, um die grauen Zellen fit zu halten. «Machen Sie Tätigkeiten, die Sie sonst nur mit Ihrer bevorzugten Hand ausführen, einfach mal mit der anderen», rät etwa die Central Krankenversicherung in ihrer Broschüre «Unser Gedächtnis». Wer diese schlichte Übung öfters wiederholt, wird schon bald erste Lernerfolge erzielen.
Wie aber funktioniert Lernen eigentlich? Für den Ulmer Professor Manfred Spitzer, Psychiater und Leiter des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen, bietet regelmässiges Musizieren dem Gehirn eine Art Verjüngungskur, es schafft sogar neue neuronale Verknüpfungen. Die täglichen Fingerübungen mit gleichzeitigem Blick auf die Noten «trainieren den Muskel im Kopf auf ideale Weise». Freilich ist die Kopf-Motorik-Koordination eine hochkomplexe Angelegenheit. Deshalb darf der Neuling wohl auch keine allzu schnellen Erfolge erwarten. Erst mit der Zeit und beständigem Üben wird dieser Prozess zunehmend automatisch erfolgen – wenn das bereits Gelernte abgerufen werden kann, um es dann weiter zu verfestigen. Auch raten Pädagogen davon ab, sich zu überfordern. Es sei wirksamer, fünfmal in der Woche eine halbe Stunde lang zu üben als einmal die Woche zweieinhalb Stunden.
Tatsächlich ist das Erlernen eines Instruments im mittleren oder höheren Erwachsenenalter der reinste Selbsterfahrungstrip. Bis die Hände zielsicher genau das tun, was der Kopf von ihnen will, wird uns vieles abgeprüft: Frustrationstoleranz, Geduld, Ausdauer, Hingabe, Disziplin. Lernforscherin Elisabeth Stern beschreibt den Lohn der Mühen: «Es ist lustvoll und motivierend, wenn man merkt, dass man etwas kann. Ich habe vorher eine Situation nicht kontrollieren können, jetzt kann ich es. Das Lernen selbst tut erst mal weh, weil ich angenehmere Dinge zurückstellen muss. Das Erfolgserlebnis, das sich einstellt, wenn ich plötzlich etwas beherrsche, macht dann aber glücklich und Lust auf mehr.»
Ihrem Kollegen Eckart Altenmüller zufolge tendieren Erwachsene allerdings dazu, ihr Vorankommen zu sehr zu analysieren und dann ein negatives Selbstbild zu entwickeln, «weil sie sich im Vergleich zu tollen Musikern in den Medien sehen». Sein Rezept gegen den Frustfaktor sind gute Pädagogen, welche die Aufmerksamkeit des Lernenden stärker auf die Freude lenken, «sich mit dem Instrument ausdrücken zu können, und das in einem stärker improvisatorischen Spiel. Das, was früher abwertend klimpern genannt wurde, ist ein wichtiger Prozess. Dieses explorative Spiel hilft, sich das Instrument anzueignen. Wer nach Noten spielt, schaut viel stärker auf die Fehler. Das sei eines der grössten Hemmnisse in der Erwachsenenpädagogik. Die Idee des Erforschens und Ausprobierens, des Formens eigener Ideen, ist natürlich nicht aufs Musizieren beschränkt – es empfiehlt sich genauso beim Malen, Schreiben, Tanzen, Schauspielen, Kochen.
Viele Menschen der Generation 50 plus klagen darüber, dass die Zeit immer schneller zu vergehen scheint. Tage, Wochen, Monate, Jahre rasen dahin. Kann ja eigentlich nicht sein. Aber es ist ein offenbar kollektives Phänomen. Psychologen bringen dieses gefühlte Tempo vor allem mit individuellen Lernerfahrungen in Verbindung. Beispiel Sommerferien: Kindern erscheinen sie oft endlos lang. Jeden Tag erfahren und lernen sie etwas Neues – die fremde Sprache im Urlaubsland, kulinarische Überraschungen, ein Tauchkurs, Ferienbekanntschaften, die Konstruktion von Sandburgen und vieles mehr. Die ältere Generation urlaubt in der Regel routinierter (beim zehnten Mal im selben Hotel am Vierwaldstättersee erlebt man eben nicht mehr viel Neues). Es ist gerade diese Routine, die unser Gehirn als schnelle Zeit wahrnimmt, weil wenig Bemerkenswertes passiert. Lernphasen dagegen scheinen langsamer zu verstreichen, weil wir dabei permanent neue Eindrücke verarbeiten. Von einer Bildungsreise hat man also deutlich länger etwas als vom Strandurlaub. Diese Erkenntnis gilt freilich fürs ganze Leben: Wem es davonzurasen scheint, der sollte wohl einfach mal Klavierstunden nehmen.
Lernen in der Gruppe geht übrigens viel leichter als allein. Nicht umsonst zieht es immer mehr «ältere Semester» an Universitäten und andere Bildungseinrichtungen. Und viele Institute haben auf diesen Trend reagiert: In zahlreichen Städten im deutschsprachigen Raum gibt es eigens sogenannte Senioren-Unis. Am Zentrum für Gerontologie der Uni Zürich setzt man etwa auf partizipative Altersforschung. Das heisst, dass ältere Menschen aktiv mitreden, wenn über sie geforscht wird. Die Studienangebote der Abteilung UZH3 stehen allen Interessierten über 60 offen, unabhängig ihrer Vorbildung, ihres Hör- und Sehvermögens oder ihrer Mobilität.
Mehrere Gründe treiben die Leute in die Hörsäle: Manche wollen verschüttet gegangene Bildung auffrischen oder neue erwerben, andere setzen auf den aktivierenden Effekt neuen Wissens und einige wollen sich sogar für eine nachberufliche Beschäftigung im Erwerbsleben qualifizieren. Darauf setzt der Studiengang «Senior Consultant» im nordrhein-westfälischen Bad Meinberg: Er befähigt die Absolventen dazu, die neugewonnenen Kenntnisse in Kombination mit ihrem bisherigen beruflichen Erfahrungsschatz etablierten Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Die ausgebildeten Senior Consultants arbeiten auf Honorarbasis, ihr Rat soll vor allem bei den jüngeren Kollegen gefragt sein.
Und dann gibt es da noch die inzwischen ziemlich berühmte 83-jährige Dame aus Japan. An der Uni war Masako Wakamiya nie. Zeit ihres Lebens arbeitete sie als einfache Bankangestellte, bis sie in den 90er-Jahren mit 60 in Rente ging. Wakamiya kaufte sich ihren ersten Computer und begann, Strickmuster digital in Excel nachzubauen, entdeckte Online-Spiele, schloss neue Bekanntschaften über das Internet. Mit grosser Begeisterung legte sie sich ein Smartphone zu – nur mit den Apps war sie nicht ganz zufrieden. Die zielten alle auf jüngere Generationen ab. Deshalb wandte sich Frau Wakamiya an eine Software-Firma und bat darum, eine Gaming-App für Senioren zu entwickeln. Der Vorstandsvorsitzende hielt es für eine gute Idee, wenn sie sich diesen Wunsch selbst erfüllen würde, und brachte der spielbegeisterten Dame übers Internet bei, ihre eigene App zu programmieren. Heraus kam «Hinadan» – ein Spiel, bei dem Puppen in traditionellen japanischen Kostümen in die richtige Reihenfolge gebracht werden müssen, und das mittlerweile mehr als 80.000 Mal heruntergeladen wurde. Apple-Chef Tim Cook zeigte sich begeistert und lud die Japanerin zur Entwicklerkonferenz WWDC nach Kalifornien ein, und die Vereinten Nationen holten sie nach New York, wo Wakamiya einen Vortrag über digitale Kompetenz für Senioren hielt.
«Im Zeitalter des Internet hat es Auswirkungen auf das tägliche Leben, wenn man mit dem Lernen aufhört», erklärte die 83-Jährige den verblüfften Journalisten. Frau Wakamiya hat unterdessen auch einige Bücher veröffentlicht; eines davon trägt den Titel «Mit über 6o wird das Leben immer interessanter».