«Die Bedeutung des chronologischen Alters wird überschätzt»

Von Bernadette Höller, 12. April 2023

François Höpflinger ist Soziologe, unterrichtete ebendies viele Jahre an der Universität Zürich und ist immer, wenn es um Fragen der Bevölkerungsentwicklung und des Alterns sowie Generationenfragen geht, die erste Anlaufstelle in der Schweiz. Wir sind daher sehr glücklich, ihn als langjährigen Stiftungsrat an unserer Seite zu haben und ein kleines bisschen – nein, MEGA stolz! Dass er vor einigen Wochen den Erich Walser Generationenpreis erhielt. Wir gratulieren mit und in diesem Interview nochmals nachträglich! Und sind gespannt, wie François damals und heute auf Fragen des Alterns und der Generationenbeziehungen blickt.

Glückwunsch nochmal ganz offiziell und öffentlich zum Erich Walser Generationenpreis, lieber François!

Vielen Dank. Der Preis war eine unerwartete, aber sehr positive Überraschung.

Was fasziniert dich eigentlich seit so vielen Jahren am Themenfeld der Alters- und Generationenforschung?

Alters- und Generationenthemen sind hoch interessant, weil sich damit vielfältige Berührungspunkte zu vielen Fachrichtungen und sozialen Bewegungen ergeben. Zudem befindet sich die Alters- und Generationenforschung seit Jahren in einem starken Wandel, wodurch sich immer auch neue Praxisansätze ergeben. Faszinierend ist vor allem, was sich bei positiver Grundhaltung bzw. kompetenzorientierter Ausrichtung an innovativen Möglichkeiten eröffnen, etwa bezüglich Generationenbeziehungen in Unternehmen, Generationenwohnen, Nachbarschaftsprojekten oder Ausweitung der gesunden Lebensjahre im Rentenalter.

Und welche Fragen findest du aktuell besonders spannend?

Zentral sind momentan vor allem zwei Fragen spannend:

  • Wie lässt sich die gesunde Lebenserwartung (auch im Alter) weiter erhöhen? Und was sind dafür die zentralen sozialen, gesundheitlichen und individuellen Voraussetzungen?

  • In welchem Masse können gut begleitete Generationenprojekte (in der Nachbarschaft, in der Arbeitswelt oder bei kulturellen Aktivitäten) die soziale Resilienz (Widerstandsfähigkeit) einer dynamischen (aber auch konfliktreichen) Gesellschaft stärken?

Wenn du nochmals an die Anfänge deiner Beschäftigung mit dem Thema zurückdenkst – gibt es Annahmen von damals, die sich als falsch herausgestellt haben?

Da ich und meine Kolleginnen aus der Westschweiz schon früh kompetenzorientierte Ansätze um Altern in den Vordergrund gestellt haben, gab es kaum Annahmen, die sich nachträglich als grundlegend falsch herausgestellt haben. Überraschend war höchstens, wie viel in relativ kurzer Zeit sich die Lebenslage alter Frauen und Männer verändert hat. Die tatsächlichen Möglichkeiten wurden eher unterschätzt, etwa was gute Lebensqualität von demenzerkrankten Menschen betrifft (z.B. Stimulation und Ruhe durch geeignete Demenzgärten, Pflegekonzepte).

Was erwiderst du eigentlich Personen oder auch Organisationen, die sagen, das Alter und auch die Generationszugehörigkeit würden keine Rolle spielen?

Es ist heute sehr selten, dass die Bedeutung von Alter und Generationenzugehörigkeit verneint werden (es gibt weiterhin mehr Klimaskeptiker als Altersskeptiker). Aktuell zeigt sich eher das umgekehrte Problem, dass in einigen Bereichen die Bedeutung des chronologischen Alters überschätzt wird, etwa wenn Leistungs- und Motivationsprobleme bei älteren Arbeitskräften ihrem Alter zugeschrieben wird und nicht der Tatsache, dass sie durch langjährige belastende Arbeitsbedingungen demotiviert sind.

Bei der Preisverleihung im Februar hielt der Ökonom Thomas Straubhaar von der Uni Hamburg die Laudatio und ging dabei vor allem auf die negativen Auswirkungen sozialer Chancenungleichheiten ein. Wie siehst du die Entwicklung in der Schweiz?

Analog anderen Ländern ist auch die Schweiz durch bedeutsame Chancenungleichheiten (von Bildung, Karriere, Lebensdauer) gekennzeichnet. Wohlhabende Menschen leben auch in der Schweiz länger als arme Menschen. Dies gilt auch für die gesunde Lebenserwartung, wo bei Männern eine verstärkte Schere feststellbar ist.

Er stellte ausserdem fest, dass Zuwanderung und «länger arbeiten» den Arbeitskräftemangel der nächsten Jahre nicht ausbügeln können werden und postulierte, die Arbeitsproduktivität müsse gesteigert werden. Was bedeutet das deiner Ansicht nach für Arbeitgebende und Arbeitnehmende?

Die Wirkung von Zuwanderung und Erhöhung des Rentenalters auf den Arbeitskräftemangel wird umstritten diskutiert. Bisher war Zuwanderung für die Schweiz die beste Lösung, um das seit 1972 bestehende Geburtendefizit zu kompensieren. ‘Länger arbeiten’: Der Effekt ist aktuell nicht speziell ausgeprägt, weil die allermeisten über 65-jährigen Arbeitskräfte teilzeitlich arbeiten bzw. arbeiten möchten.

Und wie müsste die Politik die Weichen stellen?

Generell sind zwei Dinge in einer demografischen alternden Gesellschaft mit hoher Lebenserwartung zentral:

a) Das bisherige Sozialsystem – das auf einem Nacheinander von Bildung, Erwerbsarbeit und Ruhestand beruht – ist zu einem sozialen System zu ändern, das ein lebenslanges Miteinander von Bildung/Weiterbildung, Arbeitsformen (bezahlt/unbezahlt) und Ruhephasen einschliesst. Theoretisch könnte eine allgemeine Erwerbsersatzversicherung die bisherigen Sozialkassen ersetzen. Zentral ist zudem auch eine gezielte Förderung lebenslangen Lernens (etwa durch Finanzierung von Seniorenuniversitäten, Bildungsdarlehen 50+ usw.).

b) Ohne Nutzung der Ressourcen und Kompetenzen älterer Frauen und Männer kann die Gesellschaft nicht funktionieren. Projekte wie ‘Senioren helfen Senioren’, Ausbau der Nachbarschaftshilfe oder Unterstützung der Freiwilligenarbeit werden immer zentraler, aber alle Alters- und Generationenprojekte sind keine ‘Selbstläufer’, sondern sie müssen regelmässig finanziell unterstützt werden.

Vielen Dank, François! Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit im Loopings Team mit dir!

Weiterführende Informationen

Auch interessant