Im Jahr 2022 hatten wir in der Schweiz die tiefste Arbeitslosenquote seit über 20 Jahren! Wir von Loopings wollten von Expert:innen wissen, wie es zu diesem Wandel kam und was das für ältere Stellensuchende und für die Zukunft des Schweizer Arbeitsmarkts bedeutet. In diesem Sammel-Interview erfahrt ihr Hintergrundinfos, Einschätzungen und Prognosen von Simon Wey vom Schweizerischen Arbeitgeberverband, Thomas Bauer von Travail.Suisse, Anina Hille von der Hochschule Luzern, Michael Hasler von newplace AG und Erika Bachmann vom RAV Staffelstrasse in Zürich.
Simon Wey, Schweizerischer Arbeitgeberverband: Die tiefe Arbeitslosigkeit zeigt, wie ausgetrocknet der Arbeitsmarkt ist. Auch in der Umfrage der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) zeigt sich, dass anteilsmässig nach wie vor sehr viele Betriebe den Arbeitskräftemangel als Hemmnis im Alltag wahrnehmen. Eine wichtige Ursache des rasanten Wandels auf dem Arbeitsmarkt war die unerwartet starke und international fast gleichzeitig erfolgte Erholung der Wirtschaft im Nachgang zur Aufhebung vieler einschneidender Massnahmen zum Schutz vor dem Corona-Virus. Die Betriebe stürzten sich sozusagen fast alle gleichzeitig auf die Arbeitslosen.
Thomas Bauer, Travail.Suisse: Nach der Corona-Pandemie erfolgte ein rascher wirtschaftlicher Aufschwung. Der wirtschaftliche Einbruch war aufgrund der Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie erfolgt, entsprechend startete die Konjunktur nach deren Aufhebung durch. Als Folge davon stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften deutlich an. Es wäre aber falsch, die aktuelle Situation zu beschönigen. Ende 2022 waren immer noch 168'000 Personen auf einem RAV als stellensuchend registriert. Insgesamt liegt die Anzahl an erwerbslosen Personen, wenn wir also auch Personen berücksichtigen, welche keine Taggelder der Arbeitslosenversicherung mehr beziehen können, weiterhin deutlich über 200'000. Angesichts des teilweise verbreiteten Arbeitskräftemangels halte ich diese Zahl für hoch. Seit den 1990er Jahren ist die strukturelle Arbeitslosigkeit fast stetig angestiegen. Dies spricht dafür, dass wir im Interesse aller deutlich stärker in die Aus- und Weiterbildung von Arbeitnehmenden investieren sollten.
Michael Hasler, newplace AG: Nach der COVID bedingten Abflachung macht sich gegenwärtig eine wirtschaftliche Erholung, ja gar ein spürbarer Aufschwung bemerkbar. Der konjunkturelle Aufschwung erklärt sich unter anderem aufgrund des Aufholeffekts nach zwei Pandemiejahren. Dies wirkt sich auch positiv auf den Arbeitsmarkt aus, der gegenwärtig geprägt ist von einer Vielzahl offener Stellen. Der Fachkräftebedarf hat praktisch in allen Schweizer Regionen und Branchen deutlich zugenommen.
Erika Bachmann, RAV: Wir führen dies vor allem auf die sogenannten Nachholeffekte nach der Pandemie zurück. Durch die Corona-Massnahmen war die Wirtschaft zeitweise wie eingefroren. Nach dem Aufheben der Massnahmen kam die Wirtschaft wieder in Schwung, was sich auch auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Gleichzeitig macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar, der vielen Branchen zu schaffen macht.
Anina Hille, HSLU: In meinen Augen haben wir aktuell nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern einen generellen Arbeitnehmendenmangel. Das führt dazu, dass Stellensuchende eine stärkere Ausgangslage haben. Dadurch sollten sich tendenziell die Chancen für ältere Arbeitnehmende und Stellensuchende erhöhen, wie auch zum Beispiel für Personen mit nicht-linearen Lebensläufen.
Michael Hasler, newplace AG: Für Unternehmen ist es im Allgemeinen schwieriger geworden, zusätzliche/neue Mitarbeitende zum richtigen Zeitpunkt zu finden – das wird voraussichtlich auch in den kommenden Monaten so bleiben. Bei einer erhöhten Nachfrage an Fachkräften und zeitgleicher Reduktion der Verfügbarkeit von Ressourcen sowie aufgrund der allgemeinen demografischen Entwicklung gewinnen ältere Stellensuchende zunehmend an Bedeutung. Es ist davon auszugehen, dass sich die Chancen für ältere Fachkräfte in teils «ausgetrocknete» Arbeitsmärkte verbessern und sie sich als wertvolle Ressource positionieren können. Nichtsdestotrotz sind Unternehmen im Thema Quereinsteiger noch immer sehr zurückhaltend.
Simon Wey, Schweizerischer Arbeitgeberverband: Die Situation mit dem stark akzentuierten Arbeitskräftemangel versetzt erwerbslose Personen unabhängig vom Alter in eine gute Ausgangslage bei der Stellensuche. Zudem, was oft vergessen geht, werden erwerbstätige Personen dank des Engpasses von Arbeitskräften auch seltener erwerbslos. Genau bei den Erwerbstätigen müssen meiner Meinung nach auch die Massnahmen ansetzen: insbesondere ältere Personen sollen erst gar nicht erwerbslos werden.
Erika Bachmann, RAV: Durch die aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt ist es grundsätzlich einfacher geworden, eine neue Stelle zu finden. Davon profitieren auch die älteren Stellensuchenden. Diese sollten aber weiterhin bestrebt sein, ihre digitalen Skills à jour zu halten. Dies gilt übrigens für alle Berufstätigen.
Thomas Bauer, Travail.Suisse: Die Anzahl auf den regionalen Arbeitsvermittlungszentren als Stellensuchende gemeldeten älteren Personen (55-64 Jährige) hat verglichen mit der Zeit vor der Pandemie (2019) um 6% abgenommen. Dies verdeutlicht, dass die Chancen für ältere Arbeitnehmende schon lange nicht mehr so gut waren, wieder eine Stelle zu finden wie aktuell. Verglichen mit den Stellensuchenden im mittleren Alter ist der Rückgang aber nicht einmal halb so stark. Dies zeigt, dass ältere arbeitslose Arbeitnehmende auch weiterhin mit deutlich grösseren Hürden bei der Rückkehr in die Arbeit konfrontiert sind, als jüngere Arbeitnehmende. Die Tatsache, dass in den letzten Jahren eine Enthemmung bei der Entlassung von älteren Arbeitnehmenden stattgefunden hat, die Arbeitgeber im Bereich der Weiterbildung zu stark aus der Verantwortung genommen werden und die Diskriminierung bei der Einstellung von älteren Arbeitnehmenden vielerorts fortbesteht, führt somit zu einer anhaltend unbefriedigenden Situation.
Thomas Bauer, Travail.Suisse: Die Zukunft ist offen. Das gilt nicht zuletzt für die wirtschaftliche Entwicklung. Wir können aber davon ausgehen, dass aufgrund der Demografie die Austritte aus der Arbeit in den nächsten Jahren die Eintritte deutlich stärker übersteigen, als dies in den letzten Jahren der Fall gewesen ist. Die Austritte dürften etwa um 500’000 Personen höher liegen als die Eintritte. Noch vor etwa 10 Jahren betrug dieses Missverhältnis nur etwa 250’000 Personen. Das Thema Arbeitskräftemangel dürfte uns deshalb aus demografischen Gründen erhalten bleiben. Es ist somit im allgemeinen Interesse, erwerbslose Personen besser zu qualifizieren und allen Arbeitnehmenden den Umgang mit dem strukturellen Wandel zu ermöglichen. Die Schweiz hatte zu Beginn der 1990er Jahre eine Erwerbslosenquote unter 2%. Heute liegt sie trotz überall postuliertem Arbeitskräftemangel über 4%. Das darf nicht sein. Wir sehen zudem, dass die Erwerbsbeteiligung mit zunehmendem Alter deutlich zurückgeht. Somit muss auch der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden und allgemein die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Auch hier nehmen wir bestehende und neue Risiken in der Arbeitswelt noch zu wenig ernst. Unter anderem dafür braucht es die Gewerkschaften und Berufsverbände.
Anina Hille, HSLU: Ich kann keine Prognosen machen. Lese ich aktuelle Konjunkturprognosen, so stimmen mich diese eher pessimistisch. Kommt es tatsächlich zu einem globalen Profit-Squeeze – das heisst sinkende Unternehmensgewinne durch steigende Kosten, die nicht auf die Kund:innen überwälzt werden können – so könnten viele Unternehmen in die Verlustzone rutschen. Ein solches Szenario würde die Ausgangslage auf dem Arbeitsmarkt für Stellensuchende verschlechtern – trotz des demographischen Wandels, wo sich klar zeigt, dass in der Schweiz und Deutschland beispielsweise weniger Junge nachrücken als Ältere in Pension gehen.
Erika Bachmann, RAV: Wir rechnen mittelfristig nicht mit einem starken Anstieg der Arbeitslosenquote, eine Prognose über fünf Jahre ist allerdings schwierig. Der Fach- und Arbeitskräftemangel wird uns sicher über längere Zeit beschäftigen. Dies alleine schon aus demographischen Gründen: Es gehen mehr Erwerbstätige in Rente, als in den Arbeitsmarkt eintreten. Ausserdem entwickelt sich der Arbeitsmarkt durch die Digitalisierung rasant weiter. Mit dieser Entwicklung müssen nicht nur die Unternehmen, sondern auch die RAV und die Stellensuchenden Schritt halten.
Michael Hasler, newplace AG: Der Trend, dass man vermehrt auch ältere Stellensuchende bei Vakanzen berücksichtigt, macht sich noch nicht flächendeckend bemerkbar. Ob und inwiefern Unternehmen in den kommenden fünf Jahren deutlich stärker ältere Stellensuchende in den Fokus rücken, um der Fachkräfteherausforderung zu begegnen, wird sich zeigen. Das wiederum wird unter anderem davon abhängig sein, wie sich unsere Wirtschaft im Allgemeinen weiterentwickelt, wie sich die verschiedenen Wirtschaftszweige entwickeln, wie sehr sich die Fachkräfteproblematik in den kommenden Jahren zuspitzt, etc. Ältere Stellensuchende können ein Teil der Lösung des Fachkräftemangels sein. Unternehmen werden kaum darum herumkommen, sich um den Erhalt der Arbeits(markt)fähigkeit ihrer Belegschaft – unabhängig vom Alter – zu bemühen und den Potenzialen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Beachtung zu schenken.
Simon Wey, Schweizerischer Arbeitgeberverband: Klar ist, dass der Arbeitskräftemangel in den nächsten Jahren ein grosses Thema bleibt, dies vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung in der Schweiz und auch dem zunehmenden Rückgang des Arbeitsvolumen der inländischen Erwerbstätigen.
Dr. Thomas Bauer, Leiter Wirtschaftspolitik bei Travail.Suisse, auf LinkedIn
Prof. Dr. Anina Hille, Dozentin bei der Hochschule Luzern HSLU, auf LinkedIn
Dr. Simon Wey, Chefökonom beim Schweizerischer Arbeitgeberverband, auf LinkedIn
Michael Hasler, Geschäftsführer / Regionalleiter Zürich bei newplace AG, auf LinkedIn
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