Viel Berufserfahrung und kein Diplom?

Von Stephanie Cengiz, 24. Oktober 2022

Viele Menschen arbeiten seit Jahren oder gar Jahrzehnten in einem Beruf, für den sie keinen anerkannten Abschluss haben. Das geht solange ganz gut, bis sich die berufliche Situation verändert oder die Stellensuche losgeht und nach Diplomen gefragt wird. Rebekka Masson vom Verein Modell F hat ein Verfahren namens «Informa» entwickelt, damit Bildungs- und Studiengänge durch das Anrechnen von Berufserfahrung verkürzt werden und Umschulungen trotz Registrierung beim RAV erstmals möglich sind. Ein Interview.

Der Erfolg der Schweizer Wirtschaft wird die kommenden Jahre unter anderem davon abhängen, wie stark Erwerbstätige – unabhängig von ihrem Alter – in der Weiterentwicklung, dem Erreichen von Abschlüssen und auch beim Ein- und Umstieg in Branchen, die vom Fachkräftemangel betroffen sind, gefördert werden. Mit dem Anerkennungsverfahren «Informa» können die Unternehmen die dringend gesuchten Fachkräfte aus ihrer Mitte selbst entwickeln.

Wie das funktioniert? Die bereits on the job erworbenen Kenntnisse werden den Weiterbildungen angemessen angerechnet. Das verkürzt die Weiterbildungszeit und reduziert entsprechend auch die Weiterbildungskosten. So steigt die Bereitschaft, Weiterbildungen anzugehen und die Personen kommen schneller ans Ziel und können Jobs mit Zukunft übernehmen. Besonders profitieren diejenigen Unternehmen, die stark vom Fachkräftemangel betroffen sind.

Liebe Rebekka, wann und wie bist du auf das Themenfeld «viel Berufserfahrung aber fehlende Diplome und Abschlüsse» und den entsprechenden Handlungsbedarf aufmerksam geworden?

Als nach 2011 die gesamte Weiterbildungslandschaft in der Schweiz neu gestaltet wurde, mit neuen Jobbezeichnungen und mit den Fachhochschulen eine ganz neue Bildungsstruktur entstanden sind, wurde uns allen klar, dass es viele Verlierer:innen geben würde: Für die Personen, die vor 2011 ihre Weiterbildungen abgeschlossen hatten, zum Beispiel eine HWV, ein Technikum oder eine Ausbildung als beispielsweise Fernsehelektroniker, wurde die Stellensuche schwieriger. Denn heute kennt man diese Abschlüsse kaum noch.

Die Krux der Geschichte: Wenn eben bei diesen Personen noch viele Jahre wertvolle Berufserfahrung dazu kommen, sind sie für gewisse Jobs häufig besser qualifiziert als manch eine Person mit Bachelor- oder Master-Abschluss. Doch in den HR-Abteilungen rutschen sie eventuell trotzdem durch, da beispielsweise explizit eine Person mit Bachelor-Abschluss gesucht wird. So gesehen ist der Fachkräftemangel in vielen Branchen «hausgemacht».

Gleichzeitig bietet das «neue» Berufsbildungsgesetz neue Chancen: So gibt es vor, dass die in der beruflichen und ausserberuflichen Praxis erworbenen Kompetenzen den Bildungsgängen angemessen angerechnet werden können. Auf dieser Grundlage entwickelten wir das Label «Modell F» für alle Weiterbildungsinstitutionen in der Schweiz.

Schulen mit dem Label Modell F ( F = Flexibel) bieten die üblichen eidgenössisch anerkannten Weiterbildungen auf flexible Weise an: Sie können jederzeit, mehrfach und ohne Angaben von Gründen unterbrochen und später wieder aufgenommen und mit den üblichen Diplomen abgeschlossen werden. Auch die bereits erworbenen Kompetenzen werden angemessen angerechnet. Dies führt zur Verkürzung der Weiterbildung und eben auch zur Vergünstigung. Denn wer ein Modul nicht besucht, bezahlt es auch nicht. So sind besonders die erfahrenen Berufsleute schneller wieder im Spiel.

Und wie unterstützt der Verein Modell F Erwerbstätige konkret?

Wer über viel Berufserfahrung verfügt, aber keinen entsprechenden Abschluss hat, kann «Informa» machen. Die Informa-Teilnehmenden möchten sich entweder in ihrem Berufsfeld höher oder auch spezifischer positionieren. Oder sie wollen oder müssen das Berufsfeld ganz wechseln. Informa öffnet zudem erstmals Menschen, die beim RAV gemeldet sind, den Weg an Fachhochschulen – so wird eine Umschulung während der Zeit beim RAV erstmals möglich gemacht!

Mit Informa können die Teilnehmenden in verschiedenen Berufsfeldern mit den richtigen Diplomen Fuss fassen. Einmal im Monat findet übrigens ein Infoanlass zu Informa statt, da wird das Modell vorgestellt (Anmerkung der Redaktion: den Link findet ihr in der Infobox unten).

An wen richtet sich euer Angebot?

Informa wurde für drei Akteure entwickelt: Erstens für all die Leute mit einigen Jahren Berufserfahrung, die nicht mehr in dem Berufsfeld arbeiten wollen oder können, in dem sie ihre Erstausbildung gemacht haben. Denn heute wechseln weit über 60% aller Berufstätigen das Berufsfeld ein- oder mehrmals bis zur Pensionierung. Dazu gehören auch alle Menschen, die Vereinbarkeit der Weiterbildungen mit allen anderen Lebenslagen benötigen: Mütter und Väter, Karriereleute, beim RAV Angemeldete, Gründer:innen, Spitzensportler:innen, Menschen mit Behinderung, Personen mit Armeekarriere und Ämtern in Politik und Vereinen… Informa und das Label Modell F ermöglichen diesen Wechsel schneller, einfacher und günstiger.

Zweitens richtet sich Informa an Unternehmen, die stark vom Fachkräftemangel betroffen sind. Sie können auf diese Weise ihre langjährigen Mitarbeitenden laufend und auch bei Neuausrichtung des Unternehmens selbst weiterbilden. So haben sie immer die richtigen Fachpersonen aus ihrer Mitte: Skills weiterentwickeln und ergänzen, statt die langjährigen Mitarbeitenden entlassen und händeringend neue Leute suchen.

Drittens wurde das Angebot für die Schulen im Bereich der Höheren Berufsbildung und Fachhochschulen ausgerichtet: Wenn sie das Label Modell F erwerben, sitzen mehr und andere Studierende in ihren Bildungs- und Studiengängen – Menschen jeden Alters mit verschiedenen Hintergründen und reich an Erfahrung, im Leben und im Beruf.

Und in welchen Berufsbildern siehst du den grössten Handlungsbedarf?

Viele neue Jobs entstehen jetzt im Bereich der erneuerbaren Energien, Haustechnik und so weiter. Das sind Berufsfelder mit grosser Zukunft und vielen spannenden Jobs auf allen Stufen. Gegenwärtig bauen wir diese neuen Branchen auf. Derzeit existieren Informas bereits in ICT, Engineering und Wirtschaft. Weitere Informas könnten in allen Branchen aufgebaut werden, wenn diese es wünschen.

Arbeitet ihr auch mit Organisationen zusammen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, ihre Mitarbeitenden arbeitsmarktfähig zu halten?

Ja, sehr gern! Wir arbeiten direkt mit Unternehmen und mit Arbeitnehmer- und Branchenverbänden zusammen. Alle bestehenden Partner findet ihr auf unserer Website.

Welche Tipps hast du für unsere Leserinnen und Leser, die sich gerade überlegen, wohin ihre berufliche Reise geht und die vielleicht noch mal einen Abschluss machen möchten?

Wer schon weiss, in welche Richtung die nächsten beruflichen Ziele gehen, ist Informa ideal. Für alle über 40, die derzeit nicht happy sind mit ihrer zukünftigen Laufbahn, gibt es ab 2022 in allen Kantonen die kostenlose Laufbahnberatung «viamia». Wer danach tatsächlich neue Wege gehen möchte, ist bei Informa richtig.

Was ist dein Wunsch für die Arbeitswelt 2030 in der Schweiz?

Wir wünschen uns ein Informa in allen Branchen. Und dass Menschen nach vielen Berufsjahren keine komplette Weiterbildung von sagen wir 3600 Lernstunden absolvieren müssen, wenn sie doch deren Inhalte aus ihrem Berufsleben schon so gut kennen, dass sie den Stoff sogar selbst vermitteln könnten. Alle sollten nur das lernen, was ihnen für ihre Zukunft wirklich etwas bringt und sie und die Wirtschaft weiter voranbringt. Die Gesetze dazu haben wir längst. Doch die Geschäftsmodelle der Institutionen scheinen sich den zukünftigen Lebensentwürfen der Menschen und den Anforderungen der Wirtschaft hartnäckig zu widersetzen. Möge sich das bis 2030 ändern. Zum Wohle der Berufstätigen und des Wirtschaftsstandorts Schweiz.

Und wohin geht die Reise mit eurem Verein Modell F?

Wir gehen Schritt für Schritt voran, bauen unsere Angebote laufend aus und sind weiterhin offen für alle Branchen und alle Bildungsanbieter der Stufe Tertiär in der ganzen Schweiz.

Herzlichen Dank!

Modell F

«Modell F» ist ein Verein, der einen flexiblen Einstieg in Bildungs- und Studiengänge ermöglicht, «F» = flexibel! Ziel des Vereins ist, das Potenzial von Fachkräften 45+, besonders gut ausgebildeten Frauen und Menschen mit Behinderungen gezielt zu fördern. Gleichzeitig ist «Modell F» der Name des Labels, welches Bildungsinstitutionen auszeichnet, die flexible Weiterbildungen anbieten. Wer nach dem «Modell F» studiert, kann einerseits das Lerntempo in den Bildungs- und Studiengängen von zertifizierten Schulen mit dem Label Modell F selber bestimmen. Ein Unterbruch ist jederzeit, mehrmals und ohne Angabe von Gründen möglich.

Informa

«Informa» ist das Anerkennungsverfahren vom Verein «Modell F» auf der Stufe Tertiär, das eine Verkürzung der Bildungs- und Studiengänge durch das Anrechnen von vorhandener Berufserfahrung und ausserberuflicher Praxis ermöglicht. Auf diese Weise können ältere und erfahrene Personen gezielt die neuen Kompetenzen aneignen, die Abschlüsse erwerben und sich in kurzer Zeit höher und auch anders qualifizieren: mehr Fachleute für die Schweiz und Spezialisten für die Jobs von morgen.