«Nach vierzig habe ich mich gefühlt, als hätte ich Brösmeli in der Strumpfhose»

Von Andrea Keller, 02. August 2023

In ihrer letzten Lektion als Gymnasiallehrerin hat sie geheult wie ein Schlosshund, und Schiss hatte sie auch. Aber sie war reif. Die Zeit war reif. Romana Ganzoni wollte schreiben. Heute ist sie eine gefeierte Schriftstellerin, die weiss: Es lohnt sich, auf das Glück zu hoffen, diesem Glück einen Stuhl hinzustellen, wenn es kommt. Und Misserfolge? Muss man aushalten – wie einen Hitzetag.

Liebe Romana, du bist vor dem Zvieri geboren. Es war ein Dienstag im April 1967. In Scuol im Unterengadin. So steht’s auf deiner Webseite. Wie wichtig ist dir der Anfang deiner persönlichen Geschichte?

Der reale Anfang meines Lebens auf Erden ist mir weniger wichtig, als der Drang, daraus und aus allem, das mir widerfährt, eine Geschichte zu machen und damit den Ereignissen, Menschen und Dingen eine Bedeutung zu geben. Ich bin kurz vor vier Uhr auf die Welt gekommen, wie bestimmt Millionen vor mir und Millionen nach mir, nichts Spezielles. Wenn ich den Zeitpunkt aber mit dem Zvieri verbinde, bin ich gedanklich in einer bestimmten Stube, an einem bestimmten Tisch, vor mir liegt ein riesiges Schwarzbrot, meine Mutter schneidet ein Stück ab, bestreicht es dick mit Butter, dann mit Johannisbeer-Konfitüre und reicht es mir. Der Zvieri ist eine Heimat, die die Geburt allein nicht sein kann. Er verortet mich anders, aber nicht weniger bedeutsam im Leben, als Ort und Datum meines Erscheinens. 

Der Dienstag, den ich nenne, weist darauf hin, dass ich kein Sonntagskind bin, der Dienstag ist der Tag, an dem Dienst getan wird. Ich nehme es als Erklärung für die Tatsache, dass ich Leben und Arbeit nicht trenne, und dass mir das Diensttun als etwas sehr Sinnvolles vorkommt. Der April macht mich zum Widder, wie viele andere Leute glaube ich kein bisschen an Horoskope, um dann doch alles ziemlich akkurat zu finden. Mein Geburtsjahr gibt einen Hinweis auf mein Alter und die Epoche, die mich als Kind und Jugendliche geprägt hat, nicht mehr, aber halt auch nicht weniger. Scuol verweist auf die Berge und auf eine lateinische Sprache, in die ich lebenslang verliebt bin, wie in ein eigenes Kind.

In Scuol hast du reden und laufen gelernt, bist zur Schule gegangen, hast lesen und schreiben gelernt, später in Ftan die Matura gemacht, dann an der Universität Zürich ein Geschichts- und Germanistikstudium absolviert. Du bist Gymnasiallehrerin geworden. Wer oder was hat deine damalige Berufswahl beeinflusst – und wie?

Ich stamme aus einfachen Verhältnissen und bin die Erste aus der ganzen Sippe, die eine Matura gemacht und studiert hat. Meine Herkunft empfinde ich in vielerlei Hinsicht als Geschenk. Das akademische Selbstverständnis gehörte aber natürlich nicht zu diesem Milieu, es gab keine Vorstellung davon, was ein Mensch an einer Universität so macht, und ich war entsprechend planlos, also habe ich einfach zwei meiner Lieblingsfächer studiert, Geschichte und Deutsch, die anderen Lieblingsfächer waren Malen, Zeichnen, Musik und Gesang. Schreiben war immer ein Thema, seit der Primarschule, aber es wäre mir wie Grössenwahn vorgekommen, etwas Künstlerisches machen zu wollen, man hätte mich als Fall fürs Irrenhaus gesehen, und ich hätte der Sache auch nicht getraut, aus mir sollte etwas Rechtes werden, was auch immer das heisst. 

Dass ich schon älter war, als ich etwas Neues anpackte, ein Mensch mit vielen Erfahrungen, auch Enttäuschungen und ein paar Beulen, war genau richtig.

Romana Ganzoni

Geworden bist du dann Gymnasiallehrerin – und dazu Mutter. Da gab’s das «Ja» zum Mann, Kirchenglocken, dann ein Kind, zwei Kinder, drei. Wie hast du das damals erlebt und gestaltet, dieses Neben- und Miteinander von Arbeit und Familie?

Das unproblematische Neben- und Miteinander von Beruf und Familie hat eine grundsolide und immer zuverlässige Grundlage: mein Mann, der Vater der drei Kinder. Wir hatten nie Rollen verteilt, weil wir das künstlich fanden, alles, was anfiel, zu Hause oder sonst, machte die Person, die grade Zeit oder Lust hatte beziehungsweise sich besser damit auskannte. Uns ging es darum, einander jeden Gefallen zu tun und den anderen in all dem, was er/sie wollte, zu fördern, pathetisch gesagt, unsre Liebe zu leben, anstatt dauernd darüber zu reden. 

Höre ich von den vielen Auseinandersetzungen innerhalb von Partnerschaften, wenn es darum geht, wer den Abfall rausbringt, muss ich sagen: Ich habe absolut keine Vorstellung davon, und es kommt mir sehr unnötig vor. 

Gestärkt hat uns als Vater und Mutter ein einjähriger London-Aufenthalt mit unserem ersten Kind, die Emanzipation war da viel fortgeschrittener als in der Schweiz, ob und wie Frauen Lohnarbeit verrichteten, wurde nicht in Frage gestellt, mir gefiel auch der gute Umgangston der Mütter mit ihren Kindern und wie aktiv, freundlich und einlässlich die Dads in unsrem Umfeld waren. Wir kamen von diesen Erfahrungen erfrischt zurück nach Graubünden, und ich konnte mich bestimmt auch deshalb dem Druck, der auf Mütter ausgeübt wird, entziehen und den Vorstellungen, wie eine Mutter zu sein hat. 

Dazu kam natürlich mein Beruf. Eine Lehrerin kann das Pensum reduzieren und später wieder mehr arbeiten. Je nach Lebenssituation. Ausserdem hatten wir zwei Grossmütter in der Nähe plus eine Krippe, in die alle Kinder zwei Tage pro Woche gingen – und das sehr gerne. Das sind luxuriöse Bedingungen, viele Eltern können nur davon träumen. Mir war das alles vergönnt, und dafür werde ich immer dankbar sein. 

Für mich wäre es aber trotz allem in der Zeit, in der die Kinder sehr viel Pflege und Anleitung brauchten, weder möglich, noch wünschenswert gewesen als Autorin zu arbeiten, dieser Beruf erfasst mich total, wenn ich im Schreiben bin, werde ich gemäss meiner Familie zum Schreibzombie, nicht ansprechbar und ungemütlich, für kleine Kinder wäre das eine Zumutung, für erwachsene Kinder ist es etwas, das viele Witze über «d’Mueter» generiert. Ich werde gerne liebevoll (und ausgiebig) ausgelacht.

Im Rückblick muss ich sagen: Dass ich schon älter war, als ich etwas Neues anpackte, ein Mensch mit vielen Erfahrungen, auch Enttäuschungen und ein paar Beulen, war genau richtig.

Als du’s gewagt hast, warst du Mitte 40. Was genau ist da passiert bei dir? 

Wahrscheinlich nennt man das Phänomen Midlife-Crises, nach vierzig habe ich mich gefühlt, als hätte ich Brösmeli in der Strumpfhose, keine Ruhe, keine Rast, der Rückblick auf mein Leben war in Ordnung, tu nicht so blöd, Undankbare!, sagte ich mir, Top-Mann, lustige Kids, gute Freundinnen, tolle Schul-Klassen, aber sollte es jetzt immer gleich weitergehen? Wenn ich jetzt sterben würde, was wäre meine Bilanz? Ich wusste es nicht so genau. Immer wieder kam mir der Gedanke, ich hätte nicht «erfüllt», wenn die Lichter ausgehen würden, ich kleiner Schisser hätte nicht den Mut gehabt, das zu tun, was ich tun wollte, nicht nur schreiben, sondern den Grössenwahn haben, das auch noch zu veröffentlichen. 

Als ich meine Kündigung schrieb und meine wundervolle Arbeit als Lehrerin aufgab, in der letzten Lektion heulte ich wie ein Schlosshund, Schülerinnen und Schüler trösteten mich, die Kolleginnen und Kollegen sagten, sei nicht traurig, in einem Jahr bist du wieder da.

Romana Ganzoni

Gab es den einen, glasklaren Moment, in dem du entschieden hast, Autorin zu werden? Wer oder was hat dir den Mut geschenkt, es zu probieren? 

Wenn es diesen einen Freund, einen grossartigen Autor, nicht gegeben hätte, der die besten Sätze aus meinen Emails sammelte und immer wieder und wieder und wieder sagte, ich solle vollberuflich schreiben, hätte ich es bis heute nicht gewagt. Ich verdanke ihm diesen Schritt. Und, ja, es gab diesen Moment der Entscheidung, im Frühling 2012, als ich meine Kündigung schrieb und meine wundervolle Arbeit als Lehrerin aufgab, in der letzten Lektion heulte ich wie ein Schlosshund, Schülerinnen und Schüler trösteten mich, die Kolleginnen und Kollegen sagten, sei nicht traurig, in einem Jahr bist du wieder da. Das war nicht böse gemeint, sie hatten eine realistische Sicht auf meine Situation, es war höchst unwahrscheinlich, dass das mit dem Autorinnen-Dasein klappen würde. Aber ich hatte Glück. Und das sage ich nicht aus sogenannter falscher Bescheidenheit, ich habe sehr viel gearbeitet, aber ohne Glück läuft gar nichts. 

Hattest du auch Schiss und Zweifel?

Ich bestand aus Zweifeln, ich war vor mir eine leere Behauptung, eine peinliche Nummer.

Was dann passiert ist, liest sich tatsächlich wie ein Märchen: Du hast geschrieben, geschrieben, warst schon 2014 und somit als Newcomerin Finalistin beim angesehenen Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt, hast dann diverse Wettbewerbe und Werkbeiträge gewonnen, zahlreiche Texte und Bücher publiziert, auch Theaterstücke verfasst. Was hast du bei alledem über dich selbst erfahren?

Ich habe erfahren, dass es über mich nicht so viel zu erfahren gibt. Ich habe die Ruhe gefunden, mich nicht dauernd befragen zu müssen. So kann ich schneller in die Handlung gehen und auf das Gegenüber schauen, denn ich bin vor mir selber okay, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das ist, was ich mir immer gewünscht habe. 

Wer sich zeigt, wird gesehen, diskutiert, analysiert, setzt sich also auch dem Urteil anderer aus – mit Worten und Werken und als Person. Wie wichtig ist dir, was andere über dich und deine Arbeit denken und sagen?

Wir lesen oft, es sei völlig egal, was andere über uns denken, und das stimmt natürlich nicht, es ist nicht völlig egal, was andere über uns denken, wir sollten uns aber von anderen und dem, was sie denken könnten, nicht abhalten lassen, das zu tun, was wir tun wollen, wenn es unserem Wesen entspricht, viel wichtiger ist, was denke ich über mich?, darauf kommt es primär an, welche Geschichte erzähle ich mir über mich selbst? Wie sehe ich mich? Was traue ich mir zu? Finde ich mich okay?

Ist es eventuell möglich, dass ich das Gefühl habe, andere denken über mich das, was ich über mich denke? Wenn meine Beurteilung meines Charakters, Temperaments, Verhaltens und meiner Leistung Abwertung beinhaltet und Zweifel, könnte es sein, dass ich glaube, andere würden abwertend und zweifelnd über mich denken und sprechen? 

Ich werde immer wieder so oder ähnlich angegangen: Ich finde grossartig, was du machst, aber es gibt natürlich viele, die dich schrecklich finden, hör nicht auf sie! Mach weiter! 

Also ein vordergründiges Kompliment, um ungestraft etwas Verletzendes unterzubringen. Wenn ich auf diese Weise angesprochen werde, letzte Woche gleich zwei Mal, antworte ich: Danke für die Unterstützung. Da der Mensch immer kritisiert wird, ob er Fenster putzt, Brötchen verkauft, im Coop singt, auf der Strasse geht oder das macht, was du machst, ist er frei zu tun, was er will, geredet wird eh.

Mitten drin, im Leben als Autorin: Romana beim Literaturfestival «Die Rahmenhandlung» in Zürich. Foto: Renée Kilcher

Was schätzt du heute am Allermeisten an deiner Lebens- und Arbeitssituation? 

Dass ich mir erlaube, das Schreiben als Beruf zu betreiben.

Wenn nun Menschen dieses Interview lesen, die sich auch gerade fragen, ob sie im reiferen Alter nochmals Neues wagen sollen – welche Gedanken packst du ihnen als Proviant ein, für ihren Weg?

Nicht zu lange überlegen. Goethe sagt, Erfolg hat drei Buchstaben: T. U. N. Volle Fahrt voraus! Keinen Aufwand scheuen. Auf das Glück hoffen. Ihm einen Stuhl hinstellen, wenn es kommt. Hilfe annehmen. Nicht verdrängen, dass das Leben für alle kompliziert ist und grosse Leiden verursacht. Miesmacher stehen lassen. Dem Vogel zuschauen, wie er fliegt. Misserfolge aushalten wie einen Hitzetag. Nie aufgeben. Sich nicht alles bieten lassen. Ein warmes Lavendelbad nehmen. Und wieder volle Fahrt voraus! Keinen Aufwand scheuen. Mit Glück! Und für die, die können: Gottvertrauen.

Nochmals zurück zum Alter: Du bist eine ältere Frau. Das schreibst du selbst bzw. hast du geschrieben, in einem wunderbaren Blog-Beitrag mit dem Titel «Ich bin kein Elektrovelo oder das Konzept “junggeblieben”». Ich möchte eine Stelle aus dem Text zitieren: «Ich höre die charmante Entgegnung derer, die mich trösten wollen: Du bist doch nicht älter, fünfzig ist das neue dreissig, du bist noch jung. Danke, das ist nett, aber gelogen, ich bin älter, will es sein, ist übrigens ein Privileg, nicht allen wird es zuteil.»

Das hat mir sehr gefallen. Ich würde es gern vertiefen: Was verpassen wir denn, wenn wir ewig jung bleiben wollen, uns selbst das Alter noch jung reden?

Wir versuchen vielleicht, der Endlichkeit eine andere Sicht aufzuzwingen, sie auszutricksen, was ich verständlich, sogar rührend finde. Niemand, der das liest, möchte heute oder morgen sterben. Sondern irgendwann. Aber dieses Irgendwann kommt ab 45, 50, 60, statistisch gesehen, näher. Ich finde die radikale Anerkennung dieser Tatsache entlastend. Für mich verstärkt sie den Moment und die Lebenslust. Wenn ich dauernd damit beschäftigt wäre, jung zu sein, um letztlich meine Deadline zu verschieben, habe ich weniger Musse, mich auf Existenzielles zu konzentrieren, meinen Fokus auf das Wichtige und Schöne zu richten – und die, die wirklich jung sind, zu unterstützen.

Und zu guter Letzt: Wie wollen wir aus diesem Gespräch aussteigen? Was möchtest du den Leser:innen zum Abschluss noch mitgeben?

Ich wünsche allen einen leichten und hellen Tag. Denken Sie gut von sich!

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