Diversität neu denken

Von Vanessa Zeilfelder, 02. August 2022

«Die Überprüfung der Personalprozesse und der Frage, wie stark die Prozesse Altersstereotypen und Diskriminierungen zulassen – oder gar Tür und Tor dafür öffnen – sollte zu jeder D&I-Strategie gehören», meint Barbara Fry Henchoz, Gründerin von Re-Thinking Diversity. Klingt sinnvoll, aber wie geht man das an? Wie schafft man mehr Diversität und Inklusion? Wir haben mit Barbara über das Thema gesprochen und viele konkrete und nützliche Tipps für Unternehmen erhalten.

Barbara, Re-Thinking Diversity, also «Diversität neu denken», wie geht das?

Das «Re» steht für drei Dinge: eine ganzheitliche Sichtweise, einen innovativen Lösungsansatz, und eine positive, unverkrampfte Haltung zum Thema D&I.

Die ganzheitliche Sichtweise umfasst HR-Prozesse, Themen der Organisations- und Führungskultur sowie Kommunikation, denn: Um den Wandel zu mehr Diversität und Inklusion zu schaffen, braucht es einen ehrlichen Dialog.

Der innovative Lösungsansatz betrifft die Gestaltung der HR-Prozesse, zum Beispiel Rekrutierungs- oder Beförderungsprozesse. Dabei übersetzen wir wissenschaftliche Erkenntnisse über das menschliche Entscheiden direkt in die Praxis. Dadurch werden Rekrutierungs- oder Beförderungsentscheide weniger durch unbewusste Vorurteile und Stereotypen beeinflusst.

Und nicht zuletzt steht «Re» auch für eine positive Einstellung gegenüber D&I. Das Bestreben um mehr Diversität und Inklusion ist eine Chance, um talentierte Leute anzuziehen und zu halten und um eine Kultur zu gestalten, in der alle ihr Bestes geben können.

Inwiefern beeinflussen Altersstereotype die Entscheidungen und das Verhalten von Einzelpersonen und Teams?

Wie wir andere Menschen einschätzen hat auch damit zu tun, welche unbewussten Annahmen wir gegenüber diesen Menschen treffen, zum Beispiel aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihrer Ausbildung. Unsere Entscheidungen sind oft von Annahmen und Erwartungen beeinflusst, ohne dass wir es merken.

Altersstereotypen können zum Beispiel dann im Spiel sein, wenn Beförderungen oder besonders interessante Aufgaben an jüngere Kolleginnen oder Kollegen gehen. Dahinter können unbewusste Annahmen über die Belastbarkeit, Lern- oder Entwicklungsfähigkeit älterer Mitarbeitender stecken. Diesen werden oft auch weniger Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten, obwohl sie länger im Unternehmen verbleiben als Junge.

Entscheidungen sind oft besser, wenn die im Team vorhandene Diversität an Perspektiven und Erfahrungen voll ausgeschöpft wird. Wie stark sich erfahrenere Teammitglieder dabei einbringen können, hängt stark vom Führungsstil der Teamleitung ab. Gerade wenn die Durchmischung im Team gross ist, kommt einem inklusiven Führungsstil eine grosse Bedeutung zu, damit Diversität auch ihre Früchte tragen kann.

Barbara Fry Henchoz, Gründerin von Re-Thinking Diversity

Welches besondere Potenzial liegt in der Verbesserung der Personalprozesse, um Altersstereotypen entgegenzuwirken?

Die Überprüfung der Personalprozesse und der Frage, wie stark die Prozesse Altersstereotypen und Diskriminierungen zulassen – oder gar Tür und Tor dafür öffnen – sollte zu jeder D&I-Strategie gehören.

Gut gestaltete Prozesse unterstützen Linienverantwortliche und HR-Spezialistinnen und -Spezialisten darin, Leistung und Potenzial objektiv und unvoreingenommen zu beurteilen und sich möglichst nicht von unbewussten Vorurteilen und Stereotypen beeinflussen zu lassen. Kleine Änderungen können schon viel bewirken – und dies oft nachhaltiger als es Trainings alleine können.

Dies illustriert die Studie über amerikanische Symphonieorchester sehr schön: Nachdem das Vorspielen nicht vor den Augen des Dirigenten, sondern hinter einem Vorhang erfolgte, schafften mehr Frauen diese erste Hürde! Mit einer einfachen Intervention wurde eine grosse Wirkung erzielt!

Nachfolgend ein paar Empfehlungen, um «age-bias» in HR-Prozessen zu reduzieren:

Stellenausschreibung

  • Stelleninserate ohne Altersvorgaben ausschreiben. Die Organisation riskiert sonst, talentierte Fachkräfte zu übersehen, nur weil diese in der «falschen» Altersgruppe sind.

  • In Bewerbungsformularen nicht dazu zwingen, sämtliche Stellen und Erfahrungen aufzulisten, sondern nur für das Profil relevante Positionen abfragen. Wenn alle Lebensstationen verlangt werden, ist dies sehr aufwändig und lässt die Person «alt» aussehen.

  • Eine weitere Möglichkeit age-bias zu bekämpfen, besteht darin, die Erfahrung mit Anzahl an Jahren anstelle mit Von-Bis-Jahreszahlen anzugeben.

CV-Screening

  • Falls ein klassisches CV-Screening erfolgt: Vor dem Screening genau festlegen, welche Fähigkeiten und Erfahrungen verlangt werden. Die Vorselektion muss sich auch an diese Kriterien halten. So erhöht sich die Chance, dass sich ein vermeintliches «zu viel» an Erfahrung nicht negativ auf den Selektionsentscheid auswirkt.

Interview

  • Das Interview erfolgt strukturiert – das heisst, dass allen Kandidatinnen und Kandidaten dieselben Fragen in derselben Reihenfolge gestellt werden und die Qualität der Antworten sofort bewertet wird. Wichtig: das Rekrutierungspanel hat sich vorher darüber geeinigt, was eine gute Antwort enthalten muss.

  • Es kann sich lohnen, das Beurteilungspanel divers zusammenzusetzen und darauf zu achten, dass verschiedene Altersgruppen vertreten sind.

Assessment

  • Bei vielen Stellenprofilen lohnt es sich, die Kandidatinnen und Kandidaten einen Mini-Case lösen zu lassen, bei dem es um eine typische Problemstellung im betreffenden Job geht. Dieser Mini-Case wird anonymisiert bewertet, die Beurteilenden wissen also nicht, von wem die Lösung stammt. So kann ebenfalls Altersstereotypen und anderen Vorurteilen entgegengewirkt werden.

Damit diese Verbesserungen im Personalprozess in der Praxis auch gelebt werden, braucht es den regelmässigen Austausch über Altersdiversität. Fairness und Objektivität in Rekrutierungs- und Beförderungsentscheidungen müssen ein gemeinsames Ziel sein, für das sich alle einsetzen und über welches ein Dialog stattfindet.

Wie gehst du bei der Prozessarbeit typischerweise vor?

Gemeinsam mit dem Kunden entscheiden wir, welchen HR-Prozess es sich besonders lohnt zu untersuchen. Es ist nicht immer nötig, gleich alle HR-Prozesse zu analysieren.

Die Prozessanalyse erfolgt in enger Zusammenarbeit mit den HR-Verantwortlichen. Re-Thinking Diversity erarbeitet einen Katalog an empfohlenen Prozessanpassungen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. In einem zweiten Schritt wird gemeinsam erörtert, welche der Vorschläge umgesetzt werden. Idealerweise wird zuerst ein Pilot durchgeführt. Das erlaubt es, erste Erfahrungen mit den verbesserten Prozessen zu sammeln und allenfalls weitere Anpassungen vorzunehmen, bevor der überarbeitete Prozess in der ganzen Organisation eingesetzt wird. Re-Thinking Diversity bietet auch Unterstützung bei der Umsetzung der Massnahmen an und entwickelt die passende Kommunikationsstrategie.

Wichtig ist es, die Linie von Anfang an in das Projekt einzubeziehen, damit sie Ownership entwickelt und versteht, weshalb diese Änderungen geschehen – und welche zentrale Rolle Führungspersonen auf dem Weg zu mehr Diversität und Inklusion spielen.

Und zum Schluss: Was war dein bedeutendster Looping?

Mein bedeutendster Looping war die Gründung meiner eigenen Beratungsfirma. Die Sicherheit einer Festanstellung gegen die Unwägbarkeiten einer Selbstständigkeit auszutauschen, hat Mut gebraucht. Aber ich habe viel Neues gelernt – auch über mich – und es hat sich sehr gelohnt!

Re-Thinking Diversity auf der Loopings Landkarte

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