Guten Morgen, liebe Sorgen!

Von Katja Geis, 03. April 2018

Wer sich beruflich verändern will, stösst zuweilen in seinem Umfeld auf Skepsis. Der Chef sträubt sich gegen den Wunsch nach einem neuen Aufgabenbereich, die Familienangehörigen fürchten existenzielle Risiken, Kollegen und Freunde mahnen zur Bodenhaftung: «Schuster, bleib bei deinen Leisten!» Es gilt aber nicht nur die äusseren, sondern vor allem auch die inneren Widerstände zu überwinden. Und das ist die wohl schwierigste Aufgabe. Wohin mit all den Zweifeln und Ängsten? Einfach mal zulassen! Auch die Besorgnis kann durchaus ein produktiver Zustand sein.

«Ein jeder hat sein Päckchen zu tragen!» Was wie eine Dienstanweisung an Postboten klingt, meint im Volksmund die Last all der grossen und kleinen Sorgen, die wir Menschen ständig mit uns herumschleppen. Bloss ein leidiger Störfaktor, der unseren Tatendrang bremst? Psychologen sehen das optimistischer. Sie schreiben diesen ungeliebten «Päckchen» durchaus schöpferische Potenziale zu, aus denen sich jede Menge neuer Chancen auch und gerade im Business-Alltag ergeben.

Sorgen sind eine wahre Plage. Sie aktivieren das Stresshormon Cortisol, zehren emotionale Energie. Also lieber gar nicht erst zulassen? Mitnichten. Ängste lassen sich nur kurzfristig unterdrücken. Je stärker sie verdrängt werden, desto tiefer fressen sie sich ins Unterbewusste. Und der Versuch, die Sorgenfalten hinter fröhlicher Miene zu verbergen, wird in der Regel ad hoc von intuitiven körpersprachlichen Signalen Lügen gestraft. Wer hingegen seine Befürchtungen unverblümt nach aussen trägt, gilt schnell als Panikmacher. So weit, so ungut.

Sorge führt zu Vorsorge

Jetzt die gute Nachricht: Zahlreiche Unternehmensberater und Coaches können bestätigen, dass die sprichwörtliche Unke einen weitaus besseren Ruf verdient als gemeinhin angenommen. Denn hinter einer Sorge, etwa um Teamkollegen oder die allgemeine Unternehmenslage, stehen Empathie, Achtsamkeit und oftmals bereits konstruktive Handlungsempfehlungen. Es gilt allenfalls, die Besorgnisse plausibel zu kommunizieren und die rechten Schlüsse daraus zu ziehen. Etwa sich im Gruppen-Brainstorming «Was wäre wenn»-Szenarien auszumalen, um gegen eventuelle Krisen besser gewappnet zu sein. Spannend ist das allemal. Und im Fall des Falles ist der «Panikmacher» gegenüber dem Unbekümmerten strategisch klar im Vorteil, denn er hat meist schon gedanklich einen Plan B skizziert.

Keine Frage: Draufgänger wirken auf den ersten Blick cooler. Um wie viel ärmer wäre unsere Welt wohl ohne unerschrockene Abenteurer wie Alexander von Humboldt & Co.! Dafür können besorgte Gemüter laut einer Studie der University of California Probleme (insbesondere beruflicher Art) letztlich strukturierter und proaktiver angehen als der Durchschnitt sowie auf spontane Stresssituationen gefasster reagieren. Die Autoren Kate Sweeney und Michael Dooley raten deshalb, «in die Zukunft gerichtete aversive Emotionen» nicht abzulehnen, sondern willkommen zu heissen. Wer Angst hat, bei einer Präsentation zu versagen, wird sich gründlicher darauf vorbereiten; wer gesundheitliche Risiken fürchtet, geht frühzeitig zum Arzt. Erst wenn die Sorgen langfristig in eine Denkspirale bis hin zur Handlungsunfähigkeit münden, ist professionelle Hilfe angesagt. Ansonsten gilt: Gesunde Besorgnis führt zur aktiven Vorsorge. Sich zu sorgen, ist kein Teufelskreis. Es ist der Königsweg.

Alsdann sollten wir also nicht nur den Gipfelstürmern, sondern auch den Besorgten unter uns Respekt zollen. Und gleichermassen vertrauensvoll auf die eigenen inneren Warnrufe hören. Das Gewicht auf den Schultern hat uns etwas mitzuteilen, es steckt voller nutzwertiger, zuweilen überlebenswichtiger Informationen.

«Sieh auf zu den Sternen! Gib Acht auf die Gasse!»

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der deutsche Schriftsteller und Berufspessimist Wilhelm Raabe (Pseudonym Jakob Corvinus, 1831 – 1910) zu der unorthodoxen Erkenntnis gelangte, dass «die Sorge mit das Beste in und an der Welt» sei. Er hinterliess den zeitlosen Rat: «Sieh auf zu den Sternen! Gib Acht auf die Gasse!» Mit diesem universellen Weitblick dürften zumindest auch Helden wie Humboldt gut gefahren sein. Tröstlich ausserdem: Kein Mensch ist sorgenfrei, und niemand würde sein persönliches «Päckchen» mit dem eines anderen tauschen wollen. Niemand weiss besser, wo ihn der Schuh drückt, als derjenige, der ihn trägt.

Der Schuster als Kunstkritiker

Apropos Schuh: Es heisst, die Redewendung vom Schuster und seinen Leisten beruhe auf einer Überlieferung des griechischen Malers Apelles. Der hatte ein soeben fertiggestelltes Bild auf die Strasse gestellt und sich in der Nähe versteckt, um die Meinung der Leute darüber zu hören. Dem Schuster fiel auf, dass ein Stiefel auf dem Gemälde nicht richtig dargestellt war. Also ging Apelles in sein Atelier und korrigierte den Fehler. Tags darauf legte er sich erneut hinter seinem Bild auf die Lauer. Wieder kam der Schuhmacher vorbei, um nunmehr einen gemalten Faltenwurf zu bemängeln. Diese Kritik wollte sich Apelles nicht gefallen lassen. Der Künstler sprang aus seinem Versteck hervor und rief in seiner Eitelkeit gekränkt: «Schuster, bleib bei deinen Leisten!» Soweit die Geschichte. Aber wer weiss, ob sein Gegenüber nicht durchaus das Zeug zum Kunstkritiker gehabt hätte?

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