Eine Arbeitswelt mit mehr Menschlichkeit

Von Stephanie Cengiz, 22. Oktober 2019

Wolfgang Hien ist Leiter des Forschungsbüros für Arbeit, Gesundheit und Biographie und Lehrbeauftragter der Universität Bremen. Er forscht und schreibt zu Themen rund um die verschiedenen Arbeitswelten – über ihre positiven, aber auch über ihre negativen Seiten. Wir haben ihn gefragt, was er über die Arbeitswelt 4.0 denkt.

Herr Hien, in Ihrem Buch «Kranke Arbeitswelt» schreiben Sie kritisch über die «Arbeit 4.0», über die «schöne neue Arbeitswelt». Wie kommen Sie darauf, dass diese neue Arbeitswelt oft gar nicht so schön, gar nicht so neu ist? Wir bei Neustarter arbeiten eigentlich ganz gerne selbstbestimmt und flexibel.

Das mag für eine gewisse Zeit faszinierend sein, inhaltlich und zeitlich selbstbestimmt zu arbeiten, doch mit der Zeit kommen die Zweifel: Arbeite ich wirklich selbstbestimmt? Oder jage ich den Projekten hinterher? Oder noch anders: Jagt das Projekt mich? Muss ich fortlaufend meine Ideen an die Vorgaben des Geldgebers anpassen? Kommen dann immer wieder neue Anforderungen hinzu, die meine Zeit fressen? Viele merken mit der Zeit: Sie vernachlässigen ihre Partner/innen, ihren Freundeskreis, ihre Familie. Überhaupt Familie: Irgendwann kommt der Kinderwunsch, und was dann? Wie organisiere ich Arbeit, Freizeit, Familie? Mir haben in meinen IT-Projekten viele Interviewte erzählt, dass sie – spätestens, wenn es eine gesundheitliche Krise gab – merkten, dass die Projektarbeit unbarmherzig ist. Wer kürzer treten will, riskiert einfach rauszufallen. Das sind dann extrem harte Erfahrungen. Ich habe mehrere Menschen getroffen, denen es so ergangen ist und die dann auch depressiv geworden sind. Das ist, gelinde gesagt, ganz schrecklich, das wünsche ich niemandem.

Denken Sie, die «alte Arbeitswelt», also die lineare Karriere vom Praktikant bis zum CEO bei einem Unternehmen, innerhalb klarer Hierarchien, hat die Menschen zufriedener gemacht?

Naja, der übliche biographische Verlauf war der vom Lehrling zum Vorarbeiter, mit Glück, Begabung und Beziehungen dann auch zum Industriemeister. Ich selbst habe ja lange Jahre in der chemischen Industrie gearbeitet. Der CEO, das war – und ist - in der Regel ein promovierter Chemiker. Der kommt zumeist aus wohlhabendem Elternhaus und bekommt nach dem Studium und der Promotion zumeist gleich eine Leitungsfunktion. Das ist alles kompliziert, da klaffen Welten zwischen diesen Milieus, schon immer. Die «alte» Arbeitswelt für die Nicht-CEOs war von der Lehre bis zur Rente ein Leben im gleichen Betrieb. Das war verbunden mit Einordnung, Unterordnung, krasser Autorität – die Meister, so wie ich sie noch erlebt habe, hatten ein Feldwebelgehabe. Das war nicht lustig, nein, das war zuweilen ganz furchtbar. Dieses alte Modell der Arbeit ist wohl unwiderruflich vorbei. Jetzt muss man sich immer wieder umstellen, neu justieren, immer wieder umlernen, ja, die Autoritäten sind nicht mehr so krass persönlich, aber es gibt sie irgendwie immer noch: Sie verbergen sich in E-Mails und im agilen Arbeiten, in den Erwartungen des Teams, vor allen in denen des Kunden. Und das kann auch ganz schön unbarmherzig werden.

«Motivation», «Produktivität», «Kreativität», «Wettbewerbsfähigkeit» – all diese Schlagwörter gehören zum Jargon der heutigen Businesswelt. Sie sagen, dass diese Begriffe zu selten unter die Lupe genommen werden würden.

Ja, wie ich schon sagte: Kreativität zum Beispiel ist was Wunderbares, aber wenn sie aufgezwungen wird – du musst bis dann und dann eine ganz bestimmte Sache fertig haben – dann kann das erfahrungsgemäß Leute fertig machen. Vor allem, wenn dann die wirklich kreativen Dinge gar nicht wertgeschätzt werden, sondern unsinnige Dinge hinzukommen, die dann verlangt werden und die du dann machen musst. Ich habe IT-Experten interviewt, die mir gesagt haben, dass sie an einem bestimmten Punkt kurz vor dem Wahnsinnigwerden standen und dann – gottseidank – selbst gekündigt haben oder durch eine Krankheit schlicht rausgefallen sind. Dann war die Krankheit die Rettung. Absurd, nicht?

In Ihrem Buch gehen Sie davon aus, dass die Ziele, Zwecke und Bedingungen unserer heutigen Arbeitswelt nicht durch uns selbst, sondern durch Macht- und Herrschaftsstrukturen gelenkt werden. Wie kommen Sie zu dieser Annahme? Sind flexible Arbeitszeiten und die Abflachung von Hierarchien nicht in unserem Sinne?

Wenn ich mir die Situation der Banken anschaue, dann wird mir, ehrlich gesagt, richtig schlecht. Da werden die Leute – zugegebenermaßen auch gut verdienende Leute – herumgeschoben und sind quasi Spielball zwischen den Organisationskonzepten verschiedener Vorstände und verschiedener Vorstandsvorsitzenden. Ich spreche auch mit Bankangestellten und höre da ganz viel Leid, aber auch Angst, Neid, Missgunst – warum darf die Kollegin bleiben und ich werde versetzt? Nicht mehr der brüllende Chef wie früher, aber der sanfte Knüppel des Controllers und das «Fallbeil» – das ist ein Wort eines Bankers – das Fallbeil der Organisationsanweisung.

Gerade auch in der Wissenschaft ist es total schlimm: ich habe mit Frauen gesprochen, promoviert und hoch motiviert, die sich von ihrem Chef – 2019 - sagen lassen mussten: «Kind oder Karriere. Beides geht in meinem Laden nicht! Punkt!» Diese Frau war verzweifelt, und sie hat sich für das Kind entschieden. Sie ließ sich dann outsourcen und konnte als Werkauftragnehmerin zwar weiterarbeiten. Aber sie merkte: Der Arbeitsinhalt stimmte nicht mehr, das Gehalt stimmte nicht mehr, sie konnte jederzeit - in ihren Worten – «abserviert» werden.

Ein Zitat aus Ihrem neuen Buch: «Die Vermutung lässt sich nicht von der Hand weisen, dass das Industrie-4.0-Szenario normativen Vorstellungen der Manager folgt, die dabei kaum Erleichterung und Humanisierung der Arbeit im Sinn haben.» Denken Sie, dass uns Automatismen, künstliche Intelligenz, Roboter,… schaden oder wie ist diese Aussage zu verstehen?

Natürlich gibt es gewisse Erleichterungen, die aber – schauen Sie mal in einem Automobilwerk genau hin – erkauft werden mit einer unglaublichen Arbeitstaktung. Da stehen Mensch und Roboter nebeneinander, und der Roboter gibt den Takt vor. Was an ergonomischen Fortschritten möglich war, und das goutiere ich natürlich, das wird wieder aufgefressen vom unerbittlichen Zwang, absolut aufmerksam die Arbeitsschritte zu bewältigen, nie mal abzudriften, und selbst, wenn Du aufs Klo willst, brauchst Du einen Springer bzw. den Gruppensprecher, der dann für Dich einspringt.

Ich habe mir neulich einige Tage lang einen Abschnitt in einer großen Automobilfabrik angeschaut und war hin- und hergeworfen zwischen beeindruckt und schockiert sein. Den Leuten wird eine ungeheure Leistung abverlangt. Ich habe dann mit einem leitenden Arbeitswissenschaftler dort diskutiert, und der sagte, ja, das könne man auch anders machen, z.B. dass der Mensch den Roboter diktiert, dass also der Mensch die Geschwindigkeit drosseln kann, aber das sei alles nur «im Reich der Utopie» möglich. Toyota bestimme den Takt. Punkt. Außerdem, so der Experte, könne man durchaus viele unangenehme oder monotone Arbeitsschritte abschaffen und roboterisieren, doch das sei zuweilen sehr teuer, und einstweilen sei der Mensch eben noch billiger.

Wie sieht Ihrer Meinung nach eine ideale, moderne und für alle zufriedenstellende Arbeitswelt aus? Wie sollte die Arbeitswelt 4.0 sein?

Ich bin für das alte – seit Beginn der Öko-Bewegung – Motto: «langsamer, weniger, besser, schöner!» – das zitiere ich aus dem Toblacher Thesen von 1993. Ich würde noch dazunehmen: sinnvolle Produkte und Dienstleistungen, die die Menschen wirklich brauchen, nicht die Masse an Bullshit-Produkten, die heute die Märkte überschwemmen. Ich wünsche mir, dass die Technologie eingesetzt wird, schwere, monotone und sogenannte «einfache» Arbeit zu minimieren. Die Heere von Reinigungsarbeitern und –arbeiterinnen, von Paketzustellern und -zustellerinnen, von Truckern usw. – da wünsche ich mir, dass für diese Menschen Alternativen entwickelt werden. Das geht nur, wenn wir von der Megamanie – alles schneller, höher, mehr usw. – Abstand nehmen und umlernen, in dem Sinne, dass wir wieder lernen, mit Menschen von face to face zu sprechen, mit Freunden und Nachbarn ein soziales Miteinander zu versuchen, auch ältere und kranke Menschen in Wohn- und Arbeitsprojekte einzubeziehen, ach, da würde mir vieles einfallen, was da anders laufen könnte.

Und dann die Pflege: Kleine Kinder, Kranke und Alte brauchen viel Pflege – das werden Roboter nie stemmen können, es sei denn, die Menschen lassen sich selbst wie Roboter behandeln und werden – wie in manchen Science-Fictions schon «verwirklicht» – dann nach und nach in ihrem ganzen Sein auch wie Roboter denken und «fühlen», d.h. genauer: eben sich im menschlichen Sinne fühlen und empfinden, sondern nur im logisch-mechanischen Sinne. Schön ist diese Vorstellung nicht. Nein, ich stelle mir eine ganz andere Welt vor. Eine mit mehr Menschlichkeit, Zuwendung, Empathie, mit mehr leiblicher Gemeinschaftlichkeit, ja: mit echter Sinnlichkeit, mit Verantwortung füreinander. Ein Riesenthema, sicherlich.

Vielen Dank, Herr Hien!

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