«Die Lebensphase 'Alter' ist viel weniger definiert als früher»

Von Stephanie Cengiz, 13. November 2024

Dr. Antonia Jann ist seit über 30 Jahren in der Altersarbeit tätig. Sie hat die Age-Stiftung aufgebaut und geleitet und ist heute Partnerin beim Netzwerk out&in. Im Interview mit Loopings erzählt Antonia, was sie nach ihren vielen Berufsjahren über das Thema «Alter» denkt und welche beruflichen Loopings sie bereits gemeistert hat.

30 Jahre lang hast du dich mit dem Thema «Altern» beschäftigt. Was denkst du: Blicken wir als Gesellschaft heute anders auf das Altern als vor drei Jahrzehnten?

Ja, auf jeden Fall. In den letzten 30 Jahren hat sich vieles geändert. Die Lebensphase «Alter» ist viel weniger definiert als früher, es sind viel mehr Unterschiede sichtbar. Aber das gilt eigentlich für alle Lebensphasen. Es gibt nicht mehr einen klassischen Standard-Lebenslauf, sondern viele verschiedene Möglichkeiten.

Ich mache ein Beispiel: Lange war klar, dass nach der Phase der Ausbildung die Phase des Berufslebens folgt und dann die Pensionierung. Heute dauert die Ausbildung länger. Oder die Menschen machen in der Mitte des Lebens nochmals eine Ausbildung. Vielleicht reduzieren sie die Arbeit für ein paar Jahre zugunsten der Familie und vielleicht gehen sie früher in den Ruhestand oder arbeiten nach dem offiziellen Pensionsalter noch weiter.

Es gibt nicht mehr einen klassischen Standard-Lebenslauf, sondern viele verschiedene Möglichkeiten.

Antonia Jann

Weiterbildungen richten sich in vielen Unternehmen primär an ihre «Young Talents». Trotz Fachkräftemangel und der demografischen Alterung werden wertvolle Mitarbeitende frühzeitig pensioniert. Die Stellensuche mit 50+ ist nach wie vor herausfordernd. Wie passt das zusammen?

Ich glaube, dafür gibt es individuelle und strukturelle Gründe. Als strukturellen Grund sehe ich, dass die jungen Leute motiviert und gut ausgebildet sind, was für Arbeitgeber attraktiv ist. Ausserdem sind sie günstiger als ältere Mitarbeitende, was mit der Ausgestaltung der 2. Säule zu tun hat. Und vermutlich spielt das negative Altersbild ebenfalls eine Rolle, so dass man ältere Bewerbende oft gar nicht in die engere Wahl nimmt.

Zu den individuellen Gründen gehört, dass ein Stellenwechsel eine hohe Flexibilität verlangt. Vielleicht verdient man weniger als am alten Job. Vielleicht ist man fachlich nicht mehr à jour, weil die letzte Weiterbildung schon weit zurückliegt. Und vielleicht muss man sich darauf einstellen, länger und spezifischer zu suchen, bis man einen Arbeitgeber findet, der die spezifischen Skills, die man mitbringt, auch brauchen kann. Allenfalls muss man die eigenen Erwartungen anpassen und vielleicht einen Wechsel der Position oder der Branche ins Auge fassen.

Je nach Branche kann es also gelingen, rasch einen guten Job zu finden. Oder es wird schwierig, weil die Konkurrenzsituation ungünstig ist für ältere Arbeitnehmende..

Weiterarbeiten im Pensionierungsalter: Manche wollen, andere müssen, nicht alle können. Wie schätzt du die heutige Situation in der Schweiz ein?

Eine kürzlich durch die Swiss Life durchgeführte Studie zeigt auf, dass 29% der Menschen auf keinen Fall nach der Pensionierung weiterarbeiten wollen. Dem gegenüber steht eine Gruppe von 24%, die auf jeden Fall weiterarbeiten wollen. Für die restlichen Personen kommt es auf die Bedingungen an.

Es gibt gute Gründe, den Berufsalltag zu verlassen, sei es weil die Gesundheit mehr Ruhe erfordert, sei es weil die Arbeit nicht attraktiv ist, sei es weil andere Themen wichtiger sind. Und dann gibt es auch gute Gründe für die Weiterarbeit: In der Swiss Life Studie geben 66% der Menschen, die weiterarbeiten, an, dass ihnen die Arbeit Freude macht. 26% geben finanzielle Gründe an, 14% machen berufliche Gründe geltend und 22% andere.

Ich würde mir wünschen, dass die Arbeitswelt merkt, wie wertvoll gemischte Teams sind, in denen die einen viel neues Wissen mitbringen und die anderen viel gelebte Erfahrung.

Antonia Jann

Du berätst in deiner Arbeit Organisationen sowie Privatpersonen. Was sind deine Wünsche für die zukünftige Arbeitswelt?

Wenn ich mit Menschen in der letzten Berufsphase arbeite, merke ich immer, wie wichtig ihnen ist, Teil eines Teams zu sein und einen Beitrag leisten zu können. Ich würde mir wünschen, dass die Arbeitswelt merkt, wie wertvoll gemischte Teams sind, in denen die einen viel neues Wissen mitbringen und die anderen viel gelebte Erfahrung.

Damit Menschen länger im Berufsleben bleiben, ist es sicher hilfreich, flexible Arbeitszeitmodelle anzubieten. Im Austausch mit Fachleuten aus dem HR-Bereich weise ich gerne darauf hin, wie wichtig es ist, rechtzeitig die Entwicklungsmöglichkeiten von Mitarbeitenden zu thematisieren. Es wäre ja für Arbeitgebende und Arbeitnehmende das Ziel, dass die Menschen bis zur Pensionierung oder darüber hinaus motiviert arbeiten können.

Vielleicht braucht es dazu Massnahmen, wie eine Weiterbildung, eine Anpassung des Jobprofils oder die Reduktion des Pensums. Unter Umständen führt das zu einer Reduktion des Einkommens, und das ist am Ende des Arbeitslebens gravierender als in jüngeren Jahren, weil unsere Pensionskassen so ausgelegt sind, dass die Einzahlungen am Ende des Berufslebens am höchsten sind.

Verlagsleiterin bei der Pro Senectute, Direktorin bei der UBS, Dozentin bei Careum, Geschäftsführerin,... Wie kam es zu dieser Laufbahn voller grosser und kleiner Loopings?

Eigentlich bin ich gar kein Fan von Loopings, mir wird immer schlecht, wenn es zu schnell dreht und fährt. An der Chilbi habe ich Bahnen mit starken Richtungswechseln immer vermieden. Im richtigen Leben brauche ich aber eine gewisse Abwechslung. Wenn ich nichts mehr lernen kann, wenn ich keine Herausforderung mehr spüre, dann wird es mir langweilig und dann werde ich müde und matt. Und natürlich war nicht alles von langer Hand geplant. Manchmal gab es einfach attraktive Angebote, die ich ausprobieren wollte.

Welcher dieser beruflichen Loopings war der bedeutendste für dich?

Es waren alle Veränderungen wichtig. Aber am wichtigsten war wohl mein erster Looping, der Entscheid, meine Stelle als angesehene Lehrerin in der Innerschweiz aufzugeben und im fremden Zürich ein Studium zu beginnen. Dass es so schwierig werden würde, hatte ich mir nicht vorgestellt. Ich musste lange ringen, bis ich meine neue Identität wiedergefunden hatte.

Und wenn ich mir das so überlege, dann ist das Muster eigentlich bei jedem Looping gleich. Es beginnt mit dem Gefühl, etwas ändern zu müssen, und dann wird es zuerst ziemlich schwierig, bis es dann wieder gut ist. So wie bei der Raupe, die sich irgendwann verpuppen muss, bevor sie ein Schmetterling wird. Ich glaube, durch meine Loopings habe ich gelernt, diese Zwischenphase, die immer zu Veränderungsprozessen gehört, besser auszuhalten.

Vielen Dank, liebe Antonia!

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