Ich arbeite, also bin ich?

Von Katja Geis, 22. Mai 2018

In den Feuilletons finden sich dieser Tage so manche lesenswerte Essays zu der Frage, wie wir künftig leben und arbeiten wollen. Das Thema bewegt viele Gemüter – und hat es jüngst auch auf die grosse Leinwand geschafft: Wir sind auf gleich zwei Dokumentarfilme im Kinoformat gestossen, die den Mechanismen unseres beruflichen Alltags – dem sprichwörtlichen Hamsterrad – gründlich auf den Zahn fühlen, ein Umdenken in Unternehmensorganisationen fordern und damit gerade für uns Neustarter interessant sind: «From Business to Being» und «Die stille Revolution». Vorhang auf für eine bessere, faire und sinnstiftende Arbeitswelt!

Im Juli 2017 feierte «From Business to Being» im Zürcher Arthouse-Kino RiffRaff vor rund 160 Gästen seine Schweiz-Premiere. Dieses Ereignis haben wir zwar leider verpasst. Erst im Nachhinein haben wir den Film entdeckt, der seither an seiner Aktualität und Brisanz nichts eingebüsst hat. Gleichermassen interessant finden wir die themenverwandte Dokumentation «Die stille Revolution», die ab 14. September 2018 in ausgewählten Schweizer Kinos laufen und Thema des zweiten Teils dieses redaktionellen Beitrags (folgt hier in Kürze) sein wird. Zunächst also der Rückblick auf «From Business to Being»:

Raus aus dem Hamsterrad

Profit und Wachstum sind die gängigsten Treiber gegenwärtiger Unternehmenskulturen. Die Kehrseite der Medaille: steigende Krankheitsraten, hohe Mitarbeiterfluktuation, zunehmende Fälle von Burn-out bis hin zur Arbeitsunfähigkeit. Ist es überhaupt noch möglich, dass Menschen in ihrem Beruf echte Erfüllung finden, sich dafür begeistern, was sie tun, dass sie auch und gerade in der schnelllebigen Business-Welt einander auf Augenhöhe begegnen? Und wenn ja, wie liesse sich das in die Realität umsetzen? Die Regisseure Hanna Henigin und Julian Wildgruber wollten es genauer wissen. Sie begleiteten für ihren Film «From Business to Being» drei Top-Manager aus verschiedenen Branchen auf ihren Wegen aus dem «Hamsterrad des Getriebenseins» hin zur persönlichen Selbstentfaltung. Jene Protagonisten haben Stress, Zahlen, Termindruck und Burn-out den Rücken gekehrt. Mit ganz unterschiedlichen Strategien fand jeder von ihnen auf seine Weise eine neue Balance.

Radikales Umdenken

Reinhard Stachel, seit über 25 Jahren in der Automobilbranche, litt seit geraumer Zeit unter Atemnot, Schwindel, hohem Blutdruck – und hielt es zunächst für Bagatellen. Arzttermine sagte er häufig ab, weil der Job dann doch Vorrang hatte. Erst mit der Wirtschaftskrise erhöhte sich der Leidensdruck derart, dass der Manager professionelle Hilfe suchte. Im individuellen Coaching war ein radikales Umdenken gefragt. Und das war gar nicht so einfach. «Wir hängen doch sehr an unseren Mustern», stellte Stachel fest. Heute ist ihm in seiner Arbeit vor allem wichtig, dass die Beschäftigten im Unternehmen ein gesundes Verhältnis von Engagement und Abgrenzung haben. «Der Einzelne muss erst mal erkennen, dass er Verantwortung übernehmen kann und Möglichkeiten hat.» Und dazu gehört «auch mal Nein zu sagen, wenn Systeme zu sehr über Menschen bestimmen».

«Ich bin kein Rädchen im Getriebe, sondern Gestalter in meiner Aufgabe.» Das erkannte Torsten Müller, der rund 500 Mitarbeiter in 29 Drogerie-Filialen betreut, erst nach gezieltem Bewusstseinstraining. Der Gebietsverantwortliche suchte und fand sein Heil in der Meditation – als gangbarer Weg, ein tiefergehendes Verständnis von sich selbst, den Mitmenschen und von der Welt zu bekommen. Seine Erfahrungen gibt er als Referent von Weiterbildungsseminaren an die Kollegen weiter und weiss es sehr zu schätzen, dass ihn der Arbeitgeber dabei voll und ganz unterstützt. Führungsstil bedeutet für Müller, «den Menschen die Möglichkeit zu geben, in eine Selbstführung zu kommen, und sie in ihrem individuellen Lebens- und Entwicklungsweg zu unterstützen.»

Der einstige Finanzjongleur Rudolf Wötzel gibt im Film das Paradebeispiel des kompromisslosen Neustarters: Er hängte seinen Job bei Lehman Brothers an den Nagel, nachdem ihm ein lupenreiner Burn-out diagnostiziert wurde («es weicht die Persönlichkeit auf»). Dabei hatte Wötzel eigentlich grosse Angst vor einem eventuellen sozialen Abstieg; Angst, «unter der Brücke zu landen». Aber es ging nicht mehr anders. Der Investmentbanker a. D. schnürte erst einmal die Wanderstiefel und durchquerte fünf Monate lang die Alpen von Salzburg bis nach Nizza. Der einsame Marsch hat ihn geläutert, die Gebirgswelt nicht mehr losgelassen, wie man in seinem Buch «Über die Berge zu mir selbst» nachlesen kann. Heute bewirtschaftet Rudolf Wötzel eine Schweizer Alm und verdient sich ein Zubrot mit dem Coaching von Managern. Es versteht sich, dass er seiner Klientel eine Menge zu erzählen hat.

Der Homo oeconomicus als empathisches Wesen

So weit, so bewegend sind letztlich alle drei dieser sehr individuellen Geschichten. Doch damit nicht genug. Henigin und Wildgruber liefern begleitend dazu interessante Statements ausgewiesener Experten aus Wissenschaft und Forschung, darunter Prof. Dr. Tania Singer vom Max-Planck-Institut in Leipzig – sie beschäftigt sich mit dem neuronalen Niederschlag empathischer Gefühle im Gehirn sowie konkret messbaren positiven Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Oder der ehemalige Quantenphysiker Arthur Zajonc, der ein Beratungsinstitut für Führungskräfte gegründet hat. Für ihn steht fest, dass unsere heutige Arbeitswelt dringend umgekrempelt muss, und er proklamiert den «fürsorglichen Umgang miteinander statt den jeweils anderen auszunutzen» – zum Wohle aller. Auch MIT-Professor Otto Scharmer spricht sich für den Wandel «vom Ego- zum Öko-Bewusstsein» aus. Er fordert, dass sich «mit dem Bild des Homo oeconomicus auch die praktizierten Wirtschaftsmodelle in Richtung einer verändern» müssten. Das Ziel sei eine Form von Leadership, die ethisch ist und einen Nutzen für die Welt hat.

Zuweilen driftet die Doku in fernöstlich-spirituelle Gewässer ab, selbst der Dalai Lama lässt sich einmal blicken. Dessen ungeachtet macht «From Business to Being« im Grossen und Ganzen Hoffnung. Neustarter wie Müller, Stachel und Wötzel sind längst keine Einzelfälle mehr. Und nicht nur die Wissenschaft, sondern auch einige Unternehmen wie die Film erwähnte Drogeriemarkt-Kette gehen neue Wege, um die Vision einer lebenswerten Arbeitswelt Wirklichkeit werden zu lassen. Oder wie Wötzel es beschreibt: Sie setzen sich ein «für eine Welt von Menschen, die hinter dem, was sie täglich tun, stehen können.»

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