Die stille Revolution

Von Katja Geis, 21. Juni 2018

Kürzlich haben wir den Film «From Business to Being» vorgestellt, der sich der Frage widmet, wie wir künftig leben und arbeiten wollen. An dieses Thema schliesst ein weiterer brandaktueller Streifen nahtlos an: «Die stille Revolution» erzählt dokumentarisch die Geschichte eines Unternehmens, das die Zeichen der Zeit erkannt und seine internen Strukturen komplett umgekrempelt hat – hin zu einer fairen und am Menschen orientierten Arbeitswelt. Mit deutlich messbarem Gewinn für alle Beteiligten. Na bitte, geht doch!

«Die stille Revolution» ist in den Schweizer Kinos noch nicht zu sehen, wir hatten dennoch vorab die Gelegenheit, den ambitionierten Dokumentarfilm gründlich zu sichten. Wie sein Vorgänger «From Business to Being» fordert dieses Werk ein Umdenken in Unternehmen, um an der Schaffung einer sinnstiftenden Arbeitskultur mitzuwirken. Es kommen Vertreter aus wissenschaftlichen Institutionen zu Wort, die nicht nur die gesundheitlichen und psychologischen Aspekte für einzelne Betroffene beleuchten, sondern letztlich das Gesamtwohl aller im Sinn haben – das der Unternehmen inbegriffen.

Die tiefe Kluft zwischen Selbsteinschätzung und Fremdwahrnehmung

Regisseur Kristian Gründling startet seinen Film mit einem Statement: Laut einer Gallup-Studie aus dem Jahr 2016 halten sich «97 Prozent aller Führungskräfte für eine gute Führungskraft». Das klingt schon fast unfreiwillig komisch angesichts eines Arbeitsmarktes, der von Fachkräftemangel, Fluktuation und hohen Krankenständen geprägt ist. Wie sehr Selbsteinschätzung und Fremdwahrnehmung auseinanderklaffen können, musste auch Bodo Janssen, einer der Hauptprotagonisten des Films, erfahren. Der Chef des Touristikunternehmens Upstalsboom, das rund 70 Hotels und Ferienwohnanlagen an Nord- und Ostsee betreibt, fühlte sich eigentlich bombensicher in seinem Sattel. Bis zu jenem Tag im Jahr 2010, als die Ergebnisse einer Mitarbeiterbefragung auf dem Tisch lagen. Das sah nicht gut aus.

Der Fisch fängt vom Kopf her an zu stinken

Bodo Janssen hätte sich nicht träumen lassen, unternehmensweit derart unpopulär zu sein. Die Mitarbeiter fühlten sich schlecht geführt, viele äusserten gar: «Wir brauchen einen anderen Chef». Dabei hatte Janssen doch alles genau so gemacht, wie er es im Studium gelernt hatte. Und wie es die anderen Unternehmen eben auch machten. Den hohen Krankenstand und die Fluktuationsrate hielt er für normal, so etwas wurde in den Abläufen «schon ein Stück weit eingepreist». Und dann steht plötzlich alles infrage. Die Erkenntnis, dass der «Fisch am Kopf (also bei mir) anfing zu stinken», war ernüchternd und schmerzhaft. Janssens Kollege Bernd Gaukler, Leiter Human Potential, beschreibt die Situation rückblickend: «Manchmal bedarf es eines Schockzustands, um aufzuwachen.»

Führung von unten

Auf der Suche nach Läuterung begab sich Bodo Janssen in ein Benediktinerkloster unter die Fittiche von Pater Anselm Grün, der dort Manager coacht. Der Geistliche kommt im Film mehrfach zu Wort; er nutzt ein anderes Vokabular als den üblichen Firmenjargon – etwa «Leben erwecken» statt «Potenziale entfalten». Kurzum: Bei Upstalsboom zog fortan eine ganze Menge neues Leben ein. Die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung wurden offengelegt und ungeschminkt diskutiert. Und mehr noch. Die Beschäftigten waren gefragt, Veränderungsprozesse hin zum Besseren direkt mitzugestalten. «Die Menschen haben gemerkt, die nehmen uns ernst», resümiert Gaukler. Geschäftsführer Janssen, der sich nun als Vorgesetzter deutlich grösserer Beliebtheit erfreute, beschreibt diese neue Organisationsform gar als «Führung von unten». Was zum Beispiel auch mal dazu führte, dass das mittlere Management einen Hoteldirektor, der bei dieser Form der interhierarchischen Struktur nicht mitspielen wollte oder konnte, vom Hof gejagt hat.

Bemerkenswert ist auch, dass das Unternehmen seine neue Wertekultur des Miteinander-und-füreinander-Daseins in die Welt getragen hat. Dazu zählen soziale Engagements wie der Bau von Schulen in Ruanda. Knapp 20 Upstalsboomer machten sich dazu auf den Weg nach Afrika und begleiten das im Februar 2016 gestartete Projekt bis heute voller Leidenschaft und Enthusiasmus. Versteht sich, dass die regelmässigen Treffen der Projektteilnehmer in der Arbeitszeit stattfinden. Ebenso wurde der Aufstieg einer Gruppe von Mitarbeitern auf den Gipfel des Kilimandscharo als eine Art «Arbeitseinsatz» begriffen. Auszubildende Lynn Jeckstädt war dabei und erzählt vor laufender Kamera sichtlich gerührt, wie beeindruckt sie war, «dass man da so viel reininvestiert – in einen Lehrling!» Der Firmenleitung war es wichtig, dass sich die Leute selbst erfahren. Im Film sieht man die erschöpfte, aber glückliche Wandertruppe als eingeschworenes Team, jeder hilft dem anderen. Es ist gewiss nicht das Schlechteste, was man von so einer Tour mit in den Berufsalltag nehmen kann.

Positive Bilanzen

Nach all diesen schönen Geschichten könnte man nun meinen, Upstalsboom schreibe heute nicht mehr ganz so sattschwarze Zahlen – soziales Engagement hat eben seinen Preis? Doch der neu beschrittene Weg zahlte sich vielfach aus. Der Abspann verrät: «Fünf Jahre nach der Mitarbeiterbefragung ist Bodo Janssens Unternehmen einer der beliebtesten Arbeitgeber Deutschlands. Während sich der Umsatz in dieser Zeit mehr als verdoppelt, sinkt die Krankheitsrate von 10 Prozent auf unter 2 Prozent.» Dazu passt sein Anspruch, dass nicht länger der Mensch Mittel zum Zweck für den Unternehmenserfolg ist, sondern dass das Unternehmen Mittel zum Zweck für Mensch und Umwelt ist. Und dass man nicht trotzdem, sondern eben gerade deswegen wirtschaftlichen Erfolg geniesst. Na bitte, geht doch!

Viele kluge Köpfe aus Wissenschaft und Forschung kommentieren das Geschehen in eingespielten Interviews und sehen sich darin bestätigt, dass neue Zeiten angebrochen sind, die neues Handeln erfordern. Möglicherweise sei dieser Umwälzungsprozess so gewaltig wie einst der von der Agrar- in die Industriegesellschaft. Der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther etwa spricht von der heutigen Wissensökonomie, in der der Mensch kein Kostenfaktor, sondern das aktive Vermögen eines Unternehmens ist. Im Fussball habe man das längst begriffen: «Da sind die Spieler das Vermögen des Vereins. Und die behandeln die auch ein bisschen anders …» Und der Journalist Wolf Lotter, Mitbegründer des Wirtschaftsmagazins brand eins, fordert, dass auch die Beschäftigten selbst ihre Arbeit neu bewerten sollten. «Sie müssen nicht mehr darauf warten, dass ihnen jemand sagt, was sie tun sollen. Sie müssen sie selbst organisieren, diese Arbeit, und einen eigenen Sinn entwickeln.» Oder wie es Prof. Dr. Michael Bordt von der Hochschule München an sich selbst adressiert, «mir Rechenschaft darüber ablegen, was eigentlich die Motivation hinter meiner Motivation ist.» Bodo Janssen und viele weitere Akteure der «stillen Revolution» haben genau das inzwischen getan – mit Erfolg. Nur bei einem ist die Botschaft offenbar noch nicht angekommen. Hamster Lilly, der wohl niedlichste Darsteller im Film, dreht unerschüttert weiter seine Runden im Rad.

«Die stille Revolution», jüngst als «Bester Dokumentarfilm» in Cannes ausgezeichnet, läuft in der Schweiz voraussichtlich ab Winter 2018.

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