Die Fäden in der Hand halten

Von Stephanie Cengiz, 03. Januar 2019

Lehrerin, Musikerin, Politikerin, Geschäftsfrau und Mediatorin, Projektentwicklerin und Prozessbegleiterin. Das war’s? «Noch nicht ganz!» meint Esther Zumbrunn und erfindet sich in der dritten Lebensphase nochmals ganz neu: als Handweberin. So «ganz neu» nun auch wieder nicht, meint sie schmunzelnd. Denn sie tut nichts anderes, als ihr ganzes Leben schon ihr Antrieb war: Die Fäden in der Hand halten.

Esther, Sie scheinen ein Multitalent zu sein! Wie kamen Sie zu all diesen verschiedenen Jobs?

Die Musik hat mich so vielseitig gemacht. Im Alter von 9 Jahren begann ich, Geige zu spielen. Etwas später gesellte sich dann auch die Bratsche dazu und diesen Instrumenten bin ich bis heute treu geblieben. Gerade habe ich eine Stunde lang Sonaten von Locatelli geübt. Im Laufe eines Lebens können sich viele Anlagen entwickeln und wer sich dem nicht verschliesst, entdeckt immer wieder neue Möglichkeiten, die echtes Umsetzungspotenzial haben. Meine Vielseitigkeit war aber auch nicht immer leicht für mich. Im Rahmen von Bewerbungsphasen musste ich oft merken, dass Menschen wie ich schwer einzuschätzen sind. Darum beschloss ich, alle meine beruflichen Interessen unter einem Dach zu verwirklichen und gründete die al fresca GmbH.

Warum haben Sie sich dann für die Weberei entschieden? Lassen Sie uns raten: Sie sind bei der Teppichauswahl in einem Möbelhaus verzweifelt und fanden, dass das besser gehen muss?

Ganz und gar nicht! Mit sechzig sagte ich mir, «du kannst doch nicht ein Leben lang Projekte verwirklichen und im Pensionsalter davon nichts mehr wissen wollen!» Also suchte ich etwas, wo meine Finger zum Einsatz und mein Sinn für Abläufe und Farbkombinationen auf eine neue Art zum Ausdruck kommen konnten. Die Weberei lag da auf der Hand. Zu meinem Glück gab es in der Nähe von Göttingen in der Handweberei Rosenwinkel nicht nur Angebote zum Ausprobieren an einem Webstuhl, sondern auch eine junge und engagiere Webmeisterin, die mich vor Ort anleiten und «altersgerecht» coachen konnte. Daraus ist eine Freundschaft entstanden, die gegenseitig noch immer befruchtend wirkt.

Islandart GmbH, www.islandart.ch

Widmen Sie sich heute zu 100% der Handweberei, oder haben Sie noch ein Bein in Ihrer Beratungsfirma al fresca behalten?

Ich habe auch jetzt das grosse Glück, meine Neigungen und Interessen tagtäglich von neuem umzusetzen. Neben der Arbeit am Webstuhl darf ich noch immer Mandate im Rahmen meiner Firma al fresca ausführen. Zudem lerne ich Russisch, lese viel, gehe täglich mit unserer Westiedame in die Natur, betreibe Krafttraining und lerne Linedance.

Wie lange trugen Sie den Gedanken, als Weberin zu arbeiten, in Ihrer Position als Geschäftsführerin bei al fresca mit sich rum?

Eine meiner Stärken ist, eine Idee nicht nur einfliegen zu lassen, sondern sie in kurzer Zeit auch umzusetzen. Insofern fing ich Feuer und liess die Idee neben Bisherigem entfalten und bewähren. So trat das Handweben in den Vordergrund und anderes hat dafür Platz machen müssen.

Haben Sie Ihre Neustarter-Pläne mit Ihrem Umfeld besprochen oder wälzten Sie die Gedanken mit sich allein?

Meine Freude muss ich teilen. Denn während ich darüber spreche, kann mein Wunsch Wurzeln schlagen und die Umsetzung Früchte tragen.

Die Handweberei ist sozusagen vom Aussterben bedroht (soviel wir wissen!). Kommen Sie trotzdem zu ausreichend Kundinnen und Kunden? Oder klappt’s eben genau wegen der raren Konkurrenz?

Ja, leider ist das so. Es werden in Europa kaum noch Weberinnen und Weber ausgebildet. Die Wertschätzung des Handwerks und dessen Bedeutung für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist verloren gegangen. Nicht zuletzt, weil Slow-Fashion eben ihren Preis hat und den zu bezahlen nur noch wenige bereit sind. Insofern darf ich es mir jetzt mit vierundsechzig leisten, mit Freude qualitativ hochwertige und nachhaltige textile Unikate herzustellen. Und sie finden glücklicherweise begeisterte Abnehmer und Abnehmerinnen, weil es nichts Angenehmeres gibt, als sich von Naturfasern das Leben verschönern zu lassen. Zudem arbeite ich auch gerne auf Bestellung.

Was würden Sie anderen Neustarterinnen und Neustartern raten?

«Bleiben Sie dran an Ihren Ideen! Tauschen Sie sich darüber aus und lassen Sie sich professionell begleiten!» Wer lösungsorientiert Neues anpackt, wird grosse Genugtuung erfahren.

Haben Sie eine Idee, wie man als Erwerbstätige 49+ auch innerhalb eines Anstellungsverhältnisses «neustarten» könnte? Ein anderes Arbeitsmodell, Jobsharing, Teilzeitarbeit,…Was bietet Ihrer Erfahrung nach Mitarbeitenden und Arbeitgebenden einen Mehrwert?

Die Verlässlichkeit in Arbeitsverhältnissen wird leider immer brüchiger und kurzlebiger. Wer sich frühzeitig ein neues Standbein einrichtet, sichert damit auch einen Teil seiner Existenz. Warum nicht das Stellenvolumen etwas reduzieren, um Raum für ein persönliches Projekt zu gewinnen? Das schafft persönliche Zufriedenheit und strahlt auch auf die Arbeitsumgebung aus. Ein echter Mehrwert also für alle Seiten.

Mit 65 hört die Lust, sich in einem angenehmen Arbeitsumfeld beruflich zu verwirklichen, nicht auf. Über die Pensionierungsgrenze hinaus zu arbeiten, wird in Zukunft etwas ganz Normales sein. Welche Veränderungen, und sei es in den Köpfen, würden diese Entwicklung positiv beeinflussen?

Zum einen ist das ganz klar der Anspruch, für erwerbstätige Menschen in höherem Arbeitsalter endlich gewisse Alltagsstrukturen anzupassen. Was heisst, die Älteren beispielsweise von der betrieblichen Routine zu entlasten. Sei es, ihnen etwas längere Pausen zu gewähren, häufiger kurze, selbstbestimmte Arbeitsunterbrüche zu fördern oder sie mit neuen, stressfreien Aufgaben zum Wohle der Mitarbeitenden zu betrauen.

Zum andern sollten sich alle mit dem Thema Wertschätzung im Kleinen zwischen zusammenarbeitenden Menschen auseinandersetzen. Ein erster Schritt zur Veränderung ist nur schon Innehalten und sich zu fragen: «Wann habe ich denn das letzte Mal jemandem gesagt: Wie toll du das wieder geschafft hast!»

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