Der Begriff «Holokratie» taucht seit einigen Monaten vermehrt auf. Doch was bedeutet Holokratie denn überhaupt? Welche Vor- und Nachteile hat das System für Unternehmen? Mit welchen Konsequenzen muss man durch die Einführung von Holokratie rechnen? Wir haben der Sache auf den Zahn gefühlt und die Expertin Daniela Spielmann interviewt.
Ich war Buchhändlerin aus Leidenschaft. Leider sind aber die Weiterentwicklungsmöglichkeiten im Beruf sehr begrenzt. Ich habe mich schon in der FMS für Psychologie interessiert und wollte aber nicht Psychotherapeutin werden. Daher habe ich dann an der FHNW angewandte Psychologie (Arbeits-, Organisations- und Personalpsychologie) studiert und mir im Studium den Schwerpunkt auf Organisationsentwicklung und Change Management gelegt. Meine Bachelorarbeit habe ich zum Thema «Karriere als Emanzipationsprozess» geschrieben. Dabei ging es darum, was Karriere im Kontext einer Organisation nach dem Prinzip der Holacracy (auf Deutsch: Holokratie) bedeutet. Mein Praxispartner für die Arbeit war Xpreneurs. Das Thema hat mich in seinem Bann gezogen und ich wollte nach dem Studium unbedingt weiter in diesem spannenden Feld arbeiten. So bin ich dann im März dieses Jahr bei Xpreneurs eingestiegen. Da ich eine einjährige Tochter habe, bin ich aber nur 40% angestellt.
Huch, also Holacracy in 3 Sätzen zusammenzufassen ist extrem schwierig, aber ich versuche es mal.
Holacracy ist eine Organisationsform, bei welcher alle Arbeit dem Sinn und Zweck der Organisation dient, in der Verantwortlichkeiten explizit geregelt sind und bei der die Entscheidungs,-und Handlungsbefugnisse auf alle Organisationsmitglieder aufgeteilt sind. Die Arbeit wird in Rollen organisiert, die in eine Kreisstruktur eingebettet sind (Neustarter-Anmerkung: siehe Titelbild). Diese Struktur ist nicht starr, sondern wird durch die Bearbeitung von Spannungen ständig evolutionär weiterentwickelt.
Jedes Holacracy Meeting beginnt mit einer Check-In Runde. Hier teilt jeder mit, was ihn gerade bewegt und/oder was er loswerden will. Ziel ist es, dass alle ankommen und sich auf das Meeting konzentrieren können. Am Ende des Meetings gibt es eine Check-Out Runde. Die weiteren Punkte sind beim Tactical-Meeting (Operatives Geschäft) und beim Governance-Meeting (Arbeit an der Struktur des Unternehmens) unterschiedlich. Die Abläufe sind strikt und lassen kein Abschweifen vom Inhalt zu (deswegen auch die Check-In- und Check-Out-Runde). Dies hilft, fokussiert zu bleiben und bietet jedem Teilnehmenden Raum, um sein Anliegen zu bearbeiten. Dieser Raum wird durch den Facilitator (Moderator) entschieden geschützt. Diskussionen sind in den meisten Fällen nicht erlaubt. Sie werden nur zugelassen, wenn ein Meeting-Teilnehmer eine kurze Diskussion oder den Input seiner Kolleginnen und Kollegen braucht, um seine Spannung bearbeiten zu können.
Es bedeutet, dass jeder Einzelne mehr Verantwortung übernehmen muss (oder darf). Das gibt einigen mehr Freiheit, kann aber auch Angst machen. Denn viele Mitarbeitende sind es aufgrund der heute verbreiteten Hierarchien nicht gewohnt, selbst Entscheidungen zu treffen und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen. Ein Beispiel: Ein Mitarbeiter hat bisher immer ein Budget vom Vorgesetzten für den Unterhalt der Büroräume erhalten und Richtlinien, wie er dieses Budget zu verwalten hat. Nun muss er dieses Budget selbst erstellen und die Verwaltung selbst regeln. Er evaluiert eigenständig, welche Büromöbel den Anforderungen entsprechen und ins Budget passen und entscheidet dann auch direkt, welche gewählt werden. Wichtig ist, dass alle jederzeit um Rat fragen können (teilweise auch müssen). Ob dieser Rat dann berücksichtigt wird, liegt wiederum beim Mitarbeiter selbst. Es bedeutet aber auch, dass niemand hinter einer Entscheidung (direkt die eigene Arbeit betreffend) stehen muss, die er nicht selbst getroffen hat.
Klar gibt es Grenzen, bzw. Holacracy kann (wie jedes andere System auch) umgangen werden. Die Grenzen liegen eher darin, dass oft falsche Erwartungen an Holacracy gestellt werden, die das System nicht erfüllen kann, bzw. gar nicht will. Holacracy gibt die Grundvoraussetzungen für die Gestaltung evolutionärer Arbeitsstrukturen- und Prozesse vor. Die Ausprägung einzelner Prozesse (wie Rekrutierung, Strategie, Gehälter, Personalentwicklung oder Konfliktlösung) muss jedes Unternehmen für sich selbst finden.
Alte Muster kommen gerne bei den impliziten Erwartungen hoch. Solche tauchen immer wieder auf. Dann muss man sich in der jeweiligen Situation bewusstwerden, was die Erwartung eigentlich ist und Schritte einleiten, um diese explizit zu machen. Z.B. durch das Anpassen der Verantwortlichkeiten einer Rolle.
Auch kann es sein, dass sich die alte Hierarchie wieder einschleicht. Oft unbewusst, indem die ehemaligen Vorgesetzten immer noch um Rat gefragt werden und dieser Rat dann einfach ohne bewusste Auseinandersetzung umgesetzt wird. Oder auch, wenn ein ehemaliger Vorgesetzter nicht hinter dem neuen System steht und versucht, gegen die Regeln Einfluss zu nehmen.
Ich würde bei diesen Beispielen aber nicht von einer Regelmässigkeit sprechen, sie können einfach vorkommen.
Das Unternehmen kann schneller auf wechselnde Rahmenbedingungen reagieren, da Entscheidungen nicht durch langsame oder schwerfällige Prozesse oder einzelne Personen blockiert werden. Ausserdem führt das Empowerment der Mitarbeitenden durch die verteilten Entscheidungsbefugnisse zusammen mit der Sinnhaftigkeit der Arbeit zu mehr Motivation und damit auch zu besseren Leistungen.
Wenn Holacracy richtig und vollständig umgesetzt wird, resultieren daraus keine Nachteile. Allerdings ist die Organisation mit Holacracy nicht ohne Unternehmensleitung. Sie wird auf eine andere Art geleitet. Für einige Verantwortlichkeiten sind von Gesetztes wegen bestimmte Personen haftbar. Diese Verantwortlichkeiten lassen sich in Holacracy aber gut in Rollen abbilden. Es gibt Bestrebungen, eine neue Rechtsform zu schaffen, welche die verteilte Verantwortlichkeit abbildet. Das ist aber eine grosse Aufgabe und wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Dazu gibt es bisher keine Untersuchungen. Nach meiner Erfahrung hängt die Wahrnehmung aber nicht mit dem Alter von Menschen ab, sondern von deren Erfahrungen und Einstellungen. Ich habe Menschen jeder Altersgruppe getroffen, die dem Konzept Holacracy offen und neugierig begegnet sind, habe aber auch schon von Menschen jeder Altersgruppe Skepsis erlebt. Klar ist, dass die Generation X, die Babyboomer sowieso, natürlich mit einem ganz anderen Bild von Arbeit aufgewachsen sind und meist lange in Management-Hierarchien gearbeitet haben. Genau das kann aber auch der Grund sein, weshalb sie sich für andere Organisationsformen interessieren. Die Generation Y legt Wert auf Sinnhaftigkeit und strebt nach einer guten Balance zwischen Arbeit und Privatleben, Geld steht nicht an erster Stelle. Holacracy adressiert sicher einige der Wünsche und Erwartungen dieser Generation.
Ich glaube, es sind mehr als man denkt und es werden immer mehr. Bisher sind es vor allem kleinere Unternehmen, aber auch in einigen grösseren Firmen laufen Pilotprojekte. In der Schweiz sind es zurzeit ungefähr 20. Darunter natürlich wir Xpreneurs, Unic, Freitag, Swisscom (Teile des Unternehmens), Afca, Business School Lausanne, Liip und Euforia (keine abschliessende Auflistung).