Ein neues Jahr ist angebrochen. Auch wenn schon ein paar Tage ins Land gegangen sind, ist es doch für gute Neujahrswünsche eigentlich nie zu spät. Erst recht nicht für Zukunftsvisionen. In diesem Januar fangen wir alle wieder von vorne an, so will es zumindest der Kalender. Silvester gibt Anlass zum Optimismus, ab jetzt wird alles besser, so fühlt sich das allein vom Datum her schon mal an. Ein Motivationsschub, der weiterhin genutzt werden will – es kommt nur noch auf die innere Haltung an.
Selbst eingeschworene Rationalisten gehen intuitiv mit guten Vorsätzen ins neue Jahr. Dann aber kehrt bei den meisten die Routine zurück, mit der Gewöhnung geht eine gewisse Zaghaftigkeit einher, die guten Absichten verblassen mehr oder weniger kleinlaut. Keine Sorge, so geht es uns allen. Was auch immer Sie sich vorgenommen haben mögen: Verpatzte Absichten gehören zum Leben, das ist menschlich. Es sollte uns nicht mutlos machen.
Mut an sich ist ja eine riesenhafte Angelegenheit. Man kann sich dem Mut nur schwer nähern, eigentlich kommt man nie ganz an ihn heran, ausser man ist mutig, tut Mutiges. Mut ist eine Reaktionsform, und er ist angewiesen auf die Angst, die ihm vorausgeht oder gegenübersteht. Das illustriert eine kleine Geschichte, nämlich die des Schriftstellers Robert Walser, dessen späte Jahre von der Entscheidung bestimmt waren, ohne eigenen Besitz in einer Krankenstation auf dem Land zu leben. Dort sei er oft im Freibad gewesen, wie es sein Freund und Vormund Carl Seelig berichtet. An einem Sommertag habe Walser verkündet, nun solle es auch einmal auf den Sprungturm gehen. Die schmale Figur sei die Leitern emporgestiegen. Oben angelangt, habe sie sich langsam bis zum Rand des Sprungbretts vorgetastet. Zaudern. Blick hinab, nach vorn, noch mal hinab. Kopfschütteln. Nach kritischer Prüfung der Lage habe Walser beherzt den Rückzug anzutreten – über die Leitern ging es hinab, wie er heraufgekommen war. Nicht überliefert ist in diesem Bericht, ob die anwesenden Badegäste applaudiert haben. Aber fest steht: Der Dichterfürst verdient für diesen Auftritt Respekt. Denn anders als jeder noch so eindrucksvolle Kraftmeier hatte er den Mut, seine Angst offen zuzugeben.
Damit wären wir bei jener Spielart, die im Gegensatz zur Courage auf den ersten Blick recht unpopulär erscheint: die Angst. Und doch stellt sie einen Aspekt des Menschseins dar, ohne den wir nicht überlebensfähig wären. Denn Furcht und der darauffolgende Fluchtimpuls, wie ihn Robert Walser an den Tag legte, schützten schon unsere Vorfahren vor allzu tollkühnen Aktionen, etwa bei der Jagd auf wilde Tiere, bei der man buchstäblich den Hals riskierte. Sich (vermeintliche) Schwächen wie Angst einzugestehen, kann also Leben retten. Merke: Nur wer wahrnimmt und zugibt, dass er sich nicht wohlfühlt, kann an diesem Zustand letztlich auch etwas ändern.
Der Psychologe und Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun bezeichnet den Menschen als ein «Sowohl-als-auch-Wesen», das Wurzeln und Flügel zugleich besitze. Gemeint ist damit unter anderem, dass wir sowohl das Bedürfnis nach Beständigkeit und festen Strukturen haben wie auch den Trieb nach Veränderung, zu neuen Ufern aufzubrechen. Nicht «entweder / oder», sondern beides zugleich. Diese beiden Pole wollen «in der Dialektik des eigenen Daseins miteinander koexistieren, in je unterschiedlichen Ausprägungen und Mischungsverhältnissen». Alsdann gelte es, eine dynamische Balance innerhalb dieser Spannungen zu finden, polare Gegensätze auszuhalten und zu integrieren. Bei den Römern hiess es «contraria sunt complementa», die Widersprüche ergänzen sich. Für Schulz von Thun ergibt das Ganze eine sogenannte Regenbogenqualität: «Der Regenbogen geht nur auf, wenn zwei konträre Erscheinungen – Regen und Sonnenschein – gleichzeitig vorhanden sind; erst dann entsteht diese besondere Schönheit einer Verbindung von Gegensätzlichem, das gleichzeitig vorhanden ist und sich durchdringt.»
Ähnlich mag es sich mit dem Mut und der Angst – oder vielleicht besser gesagt: der Vorsicht – verhalten. Unsere Courage erfordert ein gewisses Mass an (Selbst-)Kontrolle, damit wir nicht mit dem Kopf durch die Wand stürmen, sondern die Tür benutzen. Die Besorgnis wiederum braucht als Gegenpol eine Portion Beherztheit, damit sie uns in unserer Handlungsfähigkeit nicht zu sehr lähmt.
Der Blick in den Silvesterhimmel lässt sich übrigens als wertvolle Erinnerung und eine gute Übung für den Alltag im neuen Jahr bewahren – zumindest aus jenen vergangenen Tagen, als man das Feuerwerk noch nicht als Klimakiller identifiziert hatte. Wir blicken nach oben, stehen aufrecht. Die aufrechte Körperhaltung signalisiert nicht nur den Optimismus, mit dem wir das neue Jahr begrüssen, sondern auch Dynamik, Gelassenheit, innere Stärke und Selbstbewusstsein. Rückgrat zeigen heisst nicht unbedingt, sich «Sünden» abzugewöhnen (die eine oder andere schlechte, zumeist verzeihliche Gewohnheit gehört vielleicht einfach zu unserer Persönlichkeit). Rückgrat zeigen bedeutet, sich über die eigene Verfassung im Klaren zu sein, sich einer Situation zu stellen und der eigenen Zukunft offen ins Auge zu blicken. Sofern Sie dabei keinen Besen verschlucken, haben Sie schon die halbe Miete geschafft. Das fühlt sich gut an: Schon allein die auf diese Weise bewusst eingesetzte Körpersprache verhilft zu spürbarer innerer Gelassenheit und äusserer Souveränität zugleich. Willkommen, 2019!