Aber du bist doch ein Büromensch!

De Stephanie Cengiz, 16. mai 2019

Gabriela Schleuniger hat sich schon immer für die Geschichten und Schicksale anderer Menschen interessiert. Also hat sie ihren Bürojob an den Nagel gehängt und ist Seniorenbetreuerin geworden.

Frau Schleuniger, Sie waren lange Zeit als Leiterin von Sekretariaten und in der öffentlichen Verwaltung tätig. Wie kamen Sie darauf, sich selbstständig zu machen?

Mhm, das ist ein grosser Teil meiner Lebensgeschichte und das würde hier den Rahmen sprengen. Was ich sagen kann ist, dass ich schon über viele Jahre eine «Suchende» war. Meine Tätigkeiten im Büro haben mir auch Freude bereitetet und ich wurde gefördert und gefordert. Es war über viele Jahre sehr spannend.

Während all den Jahren habe ich mich auch im therapeutischen spirituellen Bereich fortgebildet. Ich hatte auch eine kleine Praxis in Körpertherapie und Reiki, aber ich war nicht regelmässig ausgelastet. Schon dannzumal wollte ich auch keine (faulen) Kompromisse (z.B. Krankenkassen-Anerkennung) eingehen, sondern ich wollte so tätig sein, wie es meinem Herzen und meiner Überzeugung entspricht. Eine zweijährige Ausbildung in Trauer- und Sterbebegleitung und vieles mehr hat mich einfach in diese Richtung gewiesen. Auch diese Erfahrungen waren weitere Stationen in meinem Leben, die sich dann mit meiner heutigen Tätigkeit als Puzzleteil aneinanderreihte. Denn heute kann ich z.B. durch die Sensibilität, das Wahrnehmen und Wissen in meinem Alltag bei der Begleitung von Menschen, die Unterstützung benötigen und/oder sterbenden Menschen ganz bewusst da sein und mittragen.

Und was waren dann Ihre nächsten Schritte?

So um die 50ig wurde mir wirklich klar, dass – es nie zu spät ist für einen Neubeginn – und endlich konnte ich einen Schritt nach vorne wagen. Ich habe dann ganz spontan gekündigt, weil ich spürte: jetzt ist es Zeit. Zwar habe ich noch über ein halbes Jahr im Büro weitergearbeitet, aber die Kündigung war ausgesprochen und ich fühlte mich frei. Ein klares Ziel hatte ich noch immer nicht, ich wusste einfach, es muss etwas mit Menschen sein. Ich hatte mir auch überlegt, wieder in einer öffentlichen Verwaltung im sozialen Bereich tätig zu werden. Zuerst stand aber eine mehrmonatige Reise mit meinem Mann auf dem Programm. Da er einen Unfall hatte, konnten wir die Reise nicht antreten bzw. erst einige Wochen später. Im Nachhinein war dies fast wie ein Geschenk für mich. Dadurch konnte ich wirklich Abstand von meiner jahrelangen Bürotätigkeit nehmen und stellte mich nicht selber sofort wieder unter Druck, schon bald wissen zu müssen, was ich nun machen wollte bzw. den alten Weg weiter zu begehen.

Über einige Jahre habe ich einen älteren Nachbarn unterstützt (Administration, Einkauf, Arztbesuche/-gespräche, für das Wohl von ihm sowie seinem alten Kater besorgt zu sein etc.). Irgendwie kam mir dann einfach diese Idee, dass ich in diesem Bereich aktiv werden könnte, da es mir Freude bereitete und Innovation gefragt war.

Nach der Rückkehr habe ich mit einer Liste begonnen, was ich anbieten wollte und was nicht (das was nicht, war viel grösser und hatte mich anfangs sehr irritiert). Das war der Startschuss. Mit einer guten Freundin war ich in einem Café in Willisau. Ich habe ihr meine Liste gegeben. Stundenlang haben wir darüber gesprochen. Sie, mein Mann und einige andere gute Freundinnen haben mich bestärkt und so bin ich Schritt um Schritt weiter gegangen und habe die Selbständigkeit gewagt.

Woher hatten Sie die Idee und die Motivation, als Quereinsteigerin in die Seniorenbetreuung zu wechseln?

Wie bereits vorher erwähnt, hat mir die Unterstützung des älteren Herrn Freude bereitet und weiter erfahren, wo Not sein kann für ältere Menschen. Ich konnte kreativ tätig sein, unkonventionelle Lösungen aufzeigen etc. Das Schöne daran ist auch die gegenseitige Wertschätzung. Ich habe auch erlebt, wie schwierig es ist, wenn man älter und gebrechlich wird, sich z.B. gegen aussen zu wehren. Diese Hilflosigkeit, das «Nicht-mehr-ernstgenommen-Werden»… Diese Menschen sind oft dem Spardruck und der Zeitmaschine (nämlich: keine Zeit) ausgesetzt und hier konnte ich ansetzen – auch ohne pflegerische Ausbildung.

Wie haben Sie den Übergang von Ihrer Anstellung in die Selbstständigkeit organisiert? Sind Sie ins kalte Wasser gesprungen, oder haben Sie Ihr kleines Unternehmen Stück für Stück in Teilzeit aufgebaut?

Ich bin wohl eher ins lauwarme Wasser gesprungen, denn mein Mann hat mich immer unterstützt und motiviert. Anfangs wollte ich zwar noch Teilzeit im Büro arbeiten, da es mir einfach wichtig war, auch einen finanziellen Beitrag an unser Leben zu leisten. Es war auch eine Unsicherheit, falls es nicht klappen würde, dann hätte ich wenigstens das Altbewährte gehabt, aber dann eben im sozialen Bereich. Schon bald stellte sich aber heraus, dass sich dies nicht miteinander vereinen liess. Menschen zu begleiten u.a. in Krisensituationen, heisst: flexibel und schnell handeln zu müssen. Bei einer Festanstellung geht das einfach nicht. Eine «Gefahr» für mich wäre auch gewesen, falls ich wieder eine tolle Büroarbeit gefunden hätte und meine neue Arbeit eher harzig angelaufen wäre, ich wahrscheinlich aus «Sicherheitsgründen» doch wieder im Büro geblieben wäre.

Glücklicherweise aber ist es einfach von Anfang an gut angelaufen…

Gab es Stolpersteine?

Von aussen her gab es keine Stolpersteine, sondern es waren meine eigenen Gedanken und Gefühle. Denn ich habe mich auch unter Druck gesetzt. Einige sagten mir z.B. «Du bist doch ein Büromensch, das kann ich mir nicht vorstellen, du bist bestimmt bald wieder im Büro tätig» etc. Dazu muss ich auch sagen, dass ich ja auch gerne im Büro gearbeitet habe und wusste, was ich konnte. Und dann natürlich immer und immer wieder die Frage: «Hast du denn schon Aufträge?». Dann gab es auch solche, die mich nie auf meine neue Arbeit angesprochen haben. Dies war schon eine spezielle Zeit, auszuhalten und hinzustehen für das, was ich tun wollte.

Wenn ich zurückdenke oder eben gefragt werde, erscheint es mir auch fast wie ein «Wunder».

Als Quereinsteigerin ohne Ausbildung im pflegerischen Bereich (was ich nie anstrebte) und doch in dieses Gebiet vorzustossen, ist nicht so einfach. Dies realisierte ich aber erst im Nachhinein. Ich habe mich dadurch auch nicht beirren lassen. Es war auch nie mein Ziel, in die Pflege zu gehen, sondern ich sehe meine Arbeit als ergänzendes Angebot. Ich habe mich auch ausgebildet, in dem ich einen zweijährigen Lehrgang «Begleiten von Menschen mit einer Demenz» in der Sonnweid in Wetzikon absolvierte inkl. eines Praktikums. Ich habe u.a. zwei Mandate als private Beiständin und die Stadt Zürich bietet regelmässige sehr gute Weiterbildungen und ERFAS an. Auch dieser Bereich hat viel mit meiner Tätigkeit zu tun. Auch im palliativen Bereich bilde ich mich laufend weiter. Zwar handelt es sich um keine sogenannten «anerkannten Ausbildungen», aber diese Veranstaltungen sind für meinen Alltag sehr lehrreich.

Welche Tipps und Tricks möchten Sie anderen Neustartern mitteilen?

Wieder eine nicht ganz einfache Frage. Ich kann nur von meinen eigenen Erfahrungen sprechen.

Meine Tätigkeit ist keine «0815»-Arbeit. Ich habe von Beginn an gewusst, was ich nicht mehr wollte. Das habe ich mir alles aufgeschrieben und dadurch konnte ich dann eigentlich definieren, was ich wollte… Das klingt vielleicht komisch, aber für mich war das die Herangehensweise. Ich war fokussiert und habe mir professionelle Hilfe beim Aufbau des Flyers und der Webseite geholt. Es war ein Prozess und ich habe mir Zeit gegeben. Weiterbildung in diesen Bereichen mache ich regelmässig, damit ich auch im Austausch bin.

In der Anfangsphase habe ich bei gewissen Organisationen (z.B. Privatspitex etc.) meine Dienste angeboten. Denn wenn man nicht aus dem Pflegebereich kommt, ist das eher schwierig. Ich bin eher auf Ablehnung (Konkurrenz) gestossen oder aber man wollte mich als Reinigungskraft – natürlich immer auf Abruf – einsetzen. Viele können sich unter «Betreuung» nicht recht vorstellen, was das alles sein kann. Das finde ich auch heute noch unglaublich. Ein Mensch, der z.B. wirklich krank ist, weiss, was dies bedeutet: jemand hat Zeit für mich und ist da für mich… Ich gebe Raum. Was ich nun einem Neustarter damit sagen will ist, bleibe bei deinen Ideen. Öffne die Ohren und Augen, was die anderen zu sagen/zeigen haben, aber bleibe bei dir und kehre in die Stille zurück und wäge ab, was für dich stimmig ist.

Für mich war immer klar, was Begleitung bedeutet und deshalb war ich auch nicht bereit, nur Kompromisse einzugehen. Zum Beispiel wurde mir von einer Institution angeboten, bei den Menschen z.B. den Haushalt zu machen und dann käme man schon auf das Thema Sterben etc. Das war für mich ein No-Go. Ich meine, dass eben genau meine Klarheit geholfen hat, meinen Weg zu gehen. Neben der Idee braucht es auch Glück und das Zusammentreffen von gewissen Umständen, das Vertrauen in sich und seine Arbeit, davon bin ich überzeugt.

Was hat sich konkret verändert in Ihrem Arbeitsalltag, wenn Sie vorher und nachher vergleichen?

Diese Tätigkeiten sind nicht vergleichbar. Wie ich Freude in jüngeren Jahren in meinem ersten Beruf hatte, erfüllt mich meine heutige Tätigkeit auf eine ganz andere Art und Weise. Menschen und ihre Schicksale haben mich schon immer interessiert und sicherlich hat auch mein eigener Lebensweg dazu geführt, mich mit Grenzthemen auseinanderzusetzen, auszuhalten und gemeinsame gute tragbare Lösungen zu finden. Falls es keine Lösung gibt, den Weg gemeinsam zu gehen.

Ich bin genauso eingebunden und übernehme Verantwortung und Verpflichtungen wie vorher. Ich fühle mich aber mehr beschenkt in meiner Tätigkeit mit den Grenzerfahrungen, die ich erlebe, und dem Beisammensein mit den Menschen. Natürlich gibt es auch schwierige, traurige Momente, die es auszuhalten gibt, aber meine Tätigkeit empfinde ich sinnstiftend und das relativiert so viel.

Ich verdiene nicht mehr so viel. Es ist keine Regelmässigkeit da und mein Arbeitsumfang kann sich jeden Augenblick ändern, durch den Umstand, dass z.B. jemand stirbt. Ich kann auch nicht zum Voraus akquirieren, weil das so einfach nicht funktioniert. Die Menschen suchen mich, wenn Sie jemanden brauchen und nicht vorher. Ich habe nur das Minimum der Sozialleistungen, aber es stimmt für mich. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass ich in einer Beziehung lebe und unterstützt werde mit meinen Ideen und bei meiner Arbeit. Für mich ist das die ideale Aufgabe in der zweiten Lebenshälfte.

Haben Sie weitere Ideen, wie man als Mitarbeitende:r 49+ innerhalb eines Anstellungsverhältnisses «neustarten» könnte? Abteilung wechseln, Jobsharing, Bogenkarriere…Was würde Ihren Erfahrungen nach Sinn machen?

Alles, was Sie soeben aufgezählt haben, macht Sinn. Erfahrungen habe ich diesbezüglich keine. Aber ich bin interessiert und sehe/lese, dass einige Herausforderungen auch im Berufsleben anstehen. Einen Blick in mein Umfeld zeigt mir aber, dass davon noch keine Rede im Berufsalltag ist. Zwar wird viel darüber diskutiert und auch die Politik spricht darüber, aber ob es schon an der Basis – sprich, wo es den einzelnen betrifft – angekommen ist, bezweifle ich stark. Am 07. Juni 2018 ist ein Dokumentarfilm zu diesem Thema auf SRF gekommen…wenn der einzelne Mensch genug stark und Ausdauer hat, findet er (vielleicht) eine Lösung, aber die Firmen stecken noch sehr stark in den alten Mustern. Die Zeitschrift «Brandeins» hat auch zu diesem Thema immer wieder sehr spannende Artikel von Firmen, die Neues mit Mitarbeitenden wagen. Doch meine ich, dass es noch ein weiter Weg ist, bis nur schon mal ein kleiner Teil der älteren Menschen eine solche Möglichkeit bekommt.

Aktuell werden ältere – und ich meine nicht nur die über 60-Jährigen, sondern die jüngeren Älteren – wohl eher aufs Abstellgleis gestellt, oder es wird ihnen aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt. Ich habe innerhalb meines Bekanntenkreises noch nichts vernommen, dass jemand aufgrund seines Alters auf eine neue Art gefördert oder ihm etwas Anderes unterbreitet wurde. Heute sind so viele Berufe akademisiert worden. Auch dies stimmt mich deshalb nicht sehr positiv, dass wirklich etwas geschieht. Obwohl es so dringend wäre, da es auch eine Tatsache ist, dass die Schweiz schon bald zu wenig Arbeitnehmende hat.

Es ist ein grosses gesellschaftliches Thema und man müsste noch viel mehr mit einbeziehen (z.B. Grundeinkommen etc.).

Mit 65 hört die Selbstverwirklichung nicht plötzlich auf – und dazu gehört auch die berufliche Entwicklung. Über die Pensionierungsgrenze hinaus zu arbeiten, wird in Zukunft etwas ganz Normales sein. Was muss sich gesellschaftlich und auch im Arbeitsmarkt tun, eben dass es normal wird?

Die vorherige Frage und diese gehören für mich sehr eng zusammen. Ich bin mir noch nicht so sicher, ob es etwas ganz Normales sein wird über das Pensionsalter hinaus zu arbeiten; sicherlich noch nicht in naher Zukunft. Aber Tatsache ist auch, dass viele Menschen einfach auch im Berufsleben weiter aktiv sein möchten, weil sie müssen, um finanziell im Alltag ein besseres Leben führen zu können. Ich glaube, dass es ein grosser Unterschied ist, wenn «man weiss, man kann, weil…» als «wenn man muss, weil…».

Früher waren die Menschen, die pensioniert wurden, vielleicht müder von den Arbeitsjahren und sahen die auf sie zukommenden Jahre eher zum Ruhen. Aber ich meine, dass es schon immer Menschen gab, die über die Pension hinaus gearbeitet haben, aber zu 95% waren das sicher keine Angestellten, sondern solche, die ihren Beruf wirklich mit Passion leben konnten und wahrscheinlich selbständig waren. Denn dann sagt niemand: So jetzt ist Schluss, sondern du alleine kannst bestimmen, wann du wieder einen Schritt in deinem Leben weitergehen willst.

Ich bin schon immer gerne umhergereist… Gerne möchte ich länger arbeiten, wenn ich genügend Aufträge und guter Gesundheit bin und weiter Freude habe. Gleichzeitig möchte ich die mir noch verbleibende Zeit auch mit Reisen verbringen, ob dies alles so aufgeht, werde ich dann sehen. Mal schauen, wie es kommt…

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