Lehrerin, Musikerin, Politikerin, Geschäftsfrau und Mediatorin, Projektentwicklerin und Prozessbegleiterin. Das war’s? «Noch nicht ganz!» meint Esther Zumbrunn und erfindet sich in der dritten Lebensphase nochmals ganz neu: als Handweberin. So «ganz neu» nun auch wieder nicht, meint sie schmunzelnd. Denn sie tut nichts anderes, als ihr ganzes Leben schon ihr Antrieb war: Die Fäden in der Hand halten.
Die Musik hat mich so vielseitig gemacht. Im Alter von 9 Jahren begann ich, Geige zu spielen. Etwas später gesellte sich dann auch die Bratsche dazu und diesen Instrumenten bin ich bis heute treu geblieben. Gerade habe ich eine Stunde lang Sonaten von Locatelli geübt. Im Laufe eines Lebens können sich viele Anlagen entwickeln und wer sich dem nicht verschliesst, entdeckt immer wieder neue Möglichkeiten, die echtes Umsetzungspotenzial haben. Meine Vielseitigkeit war aber auch nicht immer leicht für mich. Im Rahmen von Bewerbungsphasen musste ich oft merken, dass Menschen wie ich schwer einzuschätzen sind. Darum beschloss ich, alle meine beruflichen Interessen unter einem Dach zu verwirklichen und gründete die al fresca GmbH.
Ganz und gar nicht! Mit sechzig sagte ich mir, «du kannst doch nicht ein Leben lang Projekte verwirklichen und im Pensionsalter davon nichts mehr wissen wollen!» Also suchte ich etwas, wo meine Finger zum Einsatz und mein Sinn für Abläufe und Farbkombinationen auf eine neue Art zum Ausdruck kommen konnten. Die Weberei lag da auf der Hand. Zu meinem Glück gab es in der Nähe von Göttingen in der Handweberei Rosenwinkel nicht nur Angebote zum Ausprobieren an einem Webstuhl, sondern auch eine junge und engagiere Webmeisterin, die mich vor Ort anleiten und «altersgerecht» coachen konnte. Daraus ist eine Freundschaft entstanden, die gegenseitig noch immer befruchtend wirkt.
Ich habe auch jetzt das grosse Glück, meine Neigungen und Interessen tagtäglich von neuem umzusetzen. Neben der Arbeit am Webstuhl darf ich noch immer Mandate im Rahmen meiner Firma al fresca ausführen. Zudem lerne ich Russisch, lese viel, gehe täglich mit unserer Westiedame in die Natur, betreibe Krafttraining und lerne Linedance.
Eine meiner Stärken ist, eine Idee nicht nur einfliegen zu lassen, sondern sie in kurzer Zeit auch umzusetzen. Insofern fing ich Feuer und liess die Idee neben Bisherigem entfalten und bewähren. So trat das Handweben in den Vordergrund und anderes hat dafür Platz machen müssen.
Meine Freude muss ich teilen. Denn während ich darüber spreche, kann mein Wunsch Wurzeln schlagen und die Umsetzung Früchte tragen.
Ja, leider ist das so. Es werden in Europa kaum noch Weberinnen und Weber ausgebildet. Die Wertschätzung des Handwerks und dessen Bedeutung für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist verloren gegangen. Nicht zuletzt, weil Slow-Fashion eben ihren Preis hat und den zu bezahlen nur noch wenige bereit sind. Insofern darf ich es mir jetzt mit vierundsechzig leisten, mit Freude qualitativ hochwertige und nachhaltige textile Unikate herzustellen. Und sie finden glücklicherweise begeisterte Abnehmer und Abnehmerinnen, weil es nichts Angenehmeres gibt, als sich von Naturfasern das Leben verschönern zu lassen. Zudem arbeite ich auch gerne auf Bestellung.
«Bleiben Sie dran an Ihren Ideen! Tauschen Sie sich darüber aus und lassen Sie sich professionell begleiten!» Wer lösungsorientiert Neues anpackt, wird grosse Genugtuung erfahren.
Die Verlässlichkeit in Arbeitsverhältnissen wird leider immer brüchiger und kurzlebiger. Wer sich frühzeitig ein neues Standbein einrichtet, sichert damit auch einen Teil seiner Existenz. Warum nicht das Stellenvolumen etwas reduzieren, um Raum für ein persönliches Projekt zu gewinnen? Das schafft persönliche Zufriedenheit und strahlt auch auf die Arbeitsumgebung aus. Ein echter Mehrwert also für alle Seiten.
Zum einen ist das ganz klar der Anspruch, für erwerbstätige Menschen in höherem Arbeitsalter endlich gewisse Alltagsstrukturen anzupassen. Was heisst, die Älteren beispielsweise von der betrieblichen Routine zu entlasten. Sei es, ihnen etwas längere Pausen zu gewähren, häufiger kurze, selbstbestimmte Arbeitsunterbrüche zu fördern oder sie mit neuen, stressfreien Aufgaben zum Wohle der Mitarbeitenden zu betrauen.
Zum andern sollten sich alle mit dem Thema Wertschätzung im Kleinen zwischen zusammenarbeitenden Menschen auseinandersetzen. Ein erster Schritt zur Veränderung ist nur schon Innehalten und sich zu fragen: «Wann habe ich denn das letzte Mal jemandem gesagt: Wie toll du das wieder geschafft hast!»