Der zweite Jahresauftakt der Neustarter trumpft gross auf – mit einem bewegten Rückblick auf die Aktivitäten der vergangenen Monate, illustren Gästen und einem spektakulären Projekt, von dem man sich fragt, wieso es das eigentlich nicht schon längst gegeben hat.
Schon eine gute halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn füllt sich der Saal, die Atmosphäre ist entspannt. Für die zahlreichen angemeldeten Gäste liegen Aufkleber als Namensschildchen bereit, die anderen können sich einfach selbst eins schreiben. Das ist praktisch und hilft bei der Sondierung des Who’s who, was sich später beim Apéro als angenehme Orientierungshilfe herausstellen wird. Bierdeckel mit dem Aufdruck «Müssen Sie noch oder wollen Sie schon?» signalisieren Aufbruchstimmung. Darüber hinaus gibt es runde Ansteckplaketten in leuchtendem Neustarter-Gelb mit dem Schriftzug «Praktikant», die sich regen Gebrauchs erfreuen. Wir befinden uns also gemeinsam symbolisch im Praktikantenstatus und somit schon mal auf Augenhöhe. Fühlt sich gut an, lustig irgendwie. Denkt man doch unwillkürlich an Schüler, Studenten, Berufsanfänger. Aber das hier sind alles gestandene Leute.
Stiftungsratspräsidentin Angela Winkelmann begrüsst die Anwesenden, darunter den in der ersten Reihe versammelten Stiftungsrat, dankt den Primärpartnern wie der Zürcher Kantonalbank sowie den Helvetia Versicherungen und stellt die aktuelle Publikation der Stiftung «Erfahrungswissen und Lebensplanung – Spätberufliche Qualifikation und Aktivitäten» vor – die meisten der Autoren befinden sich übrigens hier im Saal. Etwa Neustarter-Geschäftsführerin Bernadette Höller, die uns zunächst an ihrem Rückblick teilhaben lässt. Gemäss dem Motto des Jahresauftakts 2018 sind die Akteure ins «Meer der Möglichkeiten» getaucht und haben in regelmässigen Stammtischen, Workshops und Seminaren, diversen Medienbeiträgen sowie der Kommunikation mit Unternehmen «direkt was auf die Beine gestellt». Ja, die Neustarter haben sichtlich rasant Fahrt aufgenommen, sich in der Öffentlichkeit etabliert. Ihre Anliegen werden breiter diskutiert, was wohl auch am steigenden Innovationsdruck in der Industrie 4.0 liegt. Die Arbeitswelt muss mit der Zeit gehen, sie braucht ein Umdenken, einen Kulturwandel, neue Karrieremodelle. Und die soll sie haben.
Ein solches, von der Neustarter-Stiftung ausgetüfteltes Modell nennt sich «Praktikum Arbeitswelt 4.0». Frau Winkelmann hat eingangs mit der Ankündigung «Sie werden mit uns quasi in ein Labor eintauchen» nicht zu viel versprochen. Denn das Praktikum 4.0 ist tatsächlich ein Experiment. Von Mai bis Juli dieses Jahres läuft die Pilotphase: Vier etablierte Unternehmen entsenden jeweils zwei ältere Mitarbeitende (49+) in ein externes, zunächst vierwöchiges Praktikum. Bei einem Start-up oder einem anderen Unternehmen aus der Arbeitswelt 4.0 sollen die Praktikanten neue Erfahrungen (etwa bezüglich flacher Organisationsformen oder digitaler Business-Modelle) sammeln und anschliessend bei ihrem angestammten Arbeitgeber einbringen. Während der gesamten Zeit begleitet die Neustarter-Stiftung die Kandidaten individuell, sorgt für den Austausch zwischen allen Beteiligten und analysiert am Ende mit ihnen retrospektiv das Ergebnis: Was hat’s gebracht, was lässt sich verbessern?
Keine Frage, dass das Projekt reichlich Mehrwert für alle Beteiligten bringt: für den Praktikanten die Möglichkeit, seine Expertise in einem ganz neuen Kontext einzusetzen und Ideen für die Gestaltung der kommenden Berufsjahre zu entwickeln. Das entsendende Unternehmen kann die mitgebrachten Erkenntnisse des Mitarbeitenden in die eigenen Abläufe einbinden und dabei aktiv zum Kulturwandel in der Arbeitswelt beitragen. Und die Gastgeberfirmen 4.0 geniessen den erfahrenen Blick von aussen sowie die Vernetzung mit den bereits etablierten Unternehmen. Die Effekte aus der begleitenden Medienarbeit und entsprechenden PR-Massnahmen dürften letztlich allen zugutekommen.
Auch über die Finanzierung wird hier ganz offen gesprochen; die Neustarter haben die Sache durchgerechnet und streben an, das Experiment kostendeckend zu gestalten. In der Kalkulation sind etwa die etablierten beziehungsweise entsendenden Unternehmen mit einem anteiligen Beitrag dabei, der sich als Weiterbildungsaufwand qualifizieren lässt. Und nicht zuletzt sind hier und heute Sponsoren gefragt, das Experiment mit auf den Weg zu bringen.
Dass dieses Konzept sofort einleuchtet und zum Mitmachen anregt, beweist die überwältigend hohe Nachfrage aus dem Publikum. Spontan wollen einige Leute wissen, wie man vorgehen soll, wenn man sich für ein Praktikum 4.0 interessiert. Auch ein Pensionär meldet sich, der wäre «jetzt schon gern dabei». Und warum ist eigentlich die Rede von «49+»? Bernadette Höller bevorzugt diese Variante gegenüber dem Ausdruck «50+», der allerhand stereotype Zuschreibungen gegenüber Älteren beinhalte («da geht im Kopf sofort Anti-Aging los»). «Wir wollen aber auch sagen, dass es eigentlich nie zu früh ist, über neue berufliche Perspektiven nachzudenken.» Die Skala ist gleichermassen nach oben offen: «Bei uns sind alle willkommen, auch wenn sie die 65 überschritten haben.» Darüber hinaus soll das Praktikum 4.0-Projekt zu einem späteren Zeitpunkt, also sobald es aus der experimentellen Phase herausgewachsen ist, stärker ausgeweitet werden, auf längere Zeiträume und etwa auch auf Personen, die nicht fest angestellt sind. «Am liebsten gern für alle, die da Lust drauf haben.» Das sind offenbar jetzt schon sehr viele. Alles in allem dürfte sich das Neustarter-Team in den nächsten Wochen auf weitere Nachfragen und überhaupt ziemlich viel Arbeit gefasst machen.
Dr. Laura Seifert, Mitbegründerin des Start-ups WeSpace, war sofort bereit, 4.0-Praktikanten aufzunehmen. Die ehemalige Bankangestellte hat dem «prozessgetriebenen Arbeiten» den Rücken gekehrt; im Start-up denke man eben mehr in Chancen als in Risiken. «Was man bei uns lernt? Einfach mal loslegen, Verantwortung übernehmen und die Arbeitswelt 4.0 kennenlernen.»
Changemanagerin und Wirtschaftspsychologin Philippa Dengler, dereinst bei der UBS beschäftigt, nickt. Die Erkenntnisse aus ihrer Masterarbeit «Lebenslange Arbeitsmarktfähigkeit», in Schautafeln an der grossformatigen Leinwand übersichtlich präsentiert, und das Praktikanten-Projekt passen perfekt zusammen – so kam es prompt zum Schulterschluss mit dem Neustarter-Team. Zu den von Frau Dengler erforschten Aspekten zählt unter anderem, dass der Punkt «Offen für Erfahrung» (Big Five (Psychologie)) keinen Zusammenhang mit dem chronologischen Alter aufweist.
Wissenschaftlichen Input zu «Generationengemischten Projekten» liefert Prof. François Höpflinger. Sein ebenfalls mit Folien illustrierter Beitrag kommt neben den Fakten mit hohem Unterhaltungsfaktor daher, oder mit anderen Worten gesagt: herrlich humorig. Dass biologische Alterungsprozesse für die berufliche Leistung eine untergeordnete Rolle spielen, weiss der Referent zu bestätigen. Hinzu kommt das sogenannte subjektive Alter: Einer aktuellen Befragung zufolge fühlten sich gut 70 Prozent von Personen über 50 Jahren jünger als sie tatsächlich waren. Prof. Höpflinger (71) selbst ist just bei «sechsundsechzigeinhalb» angekommen. Er analysierte unter anderem, was die Altersgruppen über die jeweils anderen denken; dass Jüngere als faul bezeichnet würden, sei allerdings schon seit Aristoteles’ Zeiten so. Die Jugend störe sich derweil daran, wenn Ältere versuchen, «mega-cool» zu sein. Der Professor empfiehlt den Praktikanten 4.0 von daher augenzwinkernd, «möglichst alt auszusehen» und sich nicht zu jugendlich zu kleiden. Grundsätzlich seien die Altersdifferenzen nicht zu verwischen, sondern zu thematisieren – intergenerationelle Kontakte gewinnen ihre Dynamik gerade aus dem Spannungsfeld der Unterschiede, genau wie es eben bei interkulturellen Begegnungen der Fall ist. Und weil Ältere dazu tendieren, den Wert ihrer Erfahrung zu überschätzen, sollten sie in gegenseitigen Lernprozessen lieber erst einmal den Jüngeren zuhören und nicht umgekehrt.
«Hätte ich das früher gewusst, dann hätte es vielleicht ein bisschen weniger wehgetan», meint dazu Olmar Albers (56), der bereits ein zehnmonatiges Praktikum unter Digital Natives hinter sich hat. Der sympathische Niederländer erzählt die Geschichte seiner persönlichen Transformation. Nach beruflicher Bilderbuchkarriere als General Manager kam es zur Sinnkrise, zu Jobverlust und längerer Auszeit, bevor sich Albers im Rahmen eines RAV-Programms im Impact Hub Zürich wiederfand – unter Co-Workern, die im Schnitt 20 bis 25 Jahre jünger waren als er. Die Crux: «Rational wollte ich lernen, aber emotional wollte ich lehren. Darauf haben die wirklich nicht gewartet.» Nachdem man den Senior als «Digital Grandpa» abqualifiziert hatte, liess sich Albers wirklich auf die Rolle des Praktikanten ein. Es ging im Gegensatz zu früher nicht mehr um Leistung, sondern auch darum, Fehler zuzulassen, einfach Mensch zu sein. «Als wir da die Basis gefunden haben, da hat es dann funktioniert.»
Illustriert hat Albers seine Qual der Wahl mit einer Schlüsselszene aus dem Film «Matrix», in der sich der Protagonist Neo zwischen einer roten und einer blauen Pille entscheiden muss. Schluckt er die blaue Kapsel, kehrt er zurück in die heile Traumwelt der Matrix («Dann wachst du in deinem Bett auf und glaubst, was du glauben willst»). Die rote Kapsel dagegen wird ihm die Augen öffnen für die Welt, wie sie tatsächlich ist. Wie Neo hat Olmar Albers also gewissermassen die bittere Pille geschluckt – am Ende hat es sich gelohnt: «Jetzt habe ich einen Job, der mir Sinn gibt.» Nämlich den des Geschäftsführers beim öbu (Verband für nachhaltiges Wirtschaften). Das passt.
Bei der anschliessenden Podiumsdiskussion gesellt sich Marco Beutler von der Zürcher Kantonalbank – eines der vier Grossunternehmen, die am Projekt Praktikum 4.0 teilnehmen – in die Runde. Er gibt sich zuversichtlich: «Wir wollen das, was die Leute erfahren, in unser Unternehmen reinholen.» Auch Beutler setzt auf den Austausch von Erfahrungen und ist der Meinung, dass das Praktikum 4.0 den idealen Rahmen dafür bietet – sofern sich die Leute darauf einlassen, ihre Komfortzone zu verlassen. Um ein Umdenken in den Köpfen zu erreichen, brauche es Vorbilder, meint Dr. Laura Seifert. «Seeing is believing. Wir brauchen mehr Vorreiter – schöne Beispiele, wie sie etwa bei der Neustarter-Stiftung zu finden sind.»
Die Diskussion ist lebhaft, angeregt, auch aus dem Publikum kommen viele Wortmeldungen. Allein die «Matrix»-Szene ruft kritische Stimmen auf den Plan. Ist die rote Pille als eine Art Zwangsmedikation zu verstehen? Das hört keiner gern, es ist vielleicht nicht der richtige Begriff. Olmar Albers räumt ein, dass wir in Zeiten des Umbruchs eben gezwungen sind, Entscheidungen zu treffen. Die Welt dreht sich, ändert sich. Wer nicht mitmachen will, muss die Konsequenz ertragen – sprich: Dann darf man über mangelnde Innovation nicht klagen.
Hinten knallt ein Korken. Jetzt lockt der Apéro – und setzt der Diskussion keineswegs ein Ende; bei delikater kulinarischer Stärkung werden die Gespräche umso intensiver geführt. Irgendwie hat man das Gefühl, dass hier und heute ein grosser Stein ins Rollen gebracht worden ist. Wir sind gespannt, wie es weitergeht!
Fotos: Thilo Moessner