Eine neuere Studie vom Psychologischen Institut der Universität Zürich hat das bisher kaum untersuchte Konzept «Erfüllung im Leben» erforscht. Was macht das Leben lebenswert? Was bringt Menschen aus verschiedenen Generationen und Gemeinschaften zum Aufblühen? Was ist im Leben von Bedeutung? Wir haben die Projektleiterin Doris Baumann nach den Ergebnissen gefragt.
Das Thema Erfüllung untersuche ich im Kontext der positiven Psychologie, der Wissenschaft, die sich mit dem gelingenden Leben auseinandersetzt – folglich denjenigen Faktoren, die den Einzelnen und Gemeinschaften zum Aufblühen bringen. Was ein gutes Leben in allen Lebensphasen, aber auch insbesondere beim Älterwerden begünstigt, interessiert mich schon länger. Nun scheint dieses Thema gerade in Anbetracht der längeren und gesunden Lebenserwartung auch sehr aktuell und relevant zu sein. Wir haben eine nie dagewesene Chance etwas aus dieser geschenkten Zeit zu machen und das Leben so zu gestalten, dass einmal auf ein erfülltes Leben zurückgeblickt werden kann. Persönlich motiviert und inspiriert bin auch durch das Leben meines Vaters, der für mich ein Rollenmodell für das erfüllte Älterwerden darstellt. Schlussendlich bin ich durch verschiedene Gespräche mit dem Hauptbetreuer meiner Dissertation, Prof. Dr. Willibald Ruch, zur konkreten Themenfindung gelangt und sehr dankbar, dieses äusserst spannende Thema untersuchen zu dürfen.
Erfreulicherweise zeigen die Ergebnisse meiner Studie, dass Erfüllung aus unterschiedlichen Quellen geschöpft werden kann. So ist zum Beispiel die Natur ein Ort, der als sehr erfüllend erfahren wird, aber auch der Beruf, gemeinnützige Tätigkeiten, Lernen und persönliche Entwicklung, eine Lebensaufgabe zu haben oder ein Lebensziel zu erreichen, werden als erfüllend eingestuft. Ein Ereignis ist ein besonderes Geschehnis, wobei das, was das Leben erfüllend macht auch mit einer längeren Zeitperspektive zusammenhängt. Die persönlich wichtigen Dinge im Leben, die zu einem erfüllten Leben beitragen, erfordern in der Regel ein langfristiges Investment und Commitment, wie z.B. Freundschaften kultivieren, ein Hobby pflegen, Kinder grossziehen oder in einem Bereich Expertise erwerben.
Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass über die drei Altersgruppen (18-39, 40-64, 65+) hinweg Personen Erfüllung in der Natur erleben, wobei die älteste Altersgruppe im Vergleich zur jüngsten diese Quelle als noch wichtiger erfährt. Im Weiteren messen die mittlere und älteste Altersgruppe im Vergleich zur jüngsten dem Beruf, Lernen und persönliche Entwicklung, eine Lebensaufgabe zu haben, eine grössere Bedeutung für die Erfüllung bei. Das Erfahren von Erfüllung in der Spiritualität scheint mit dem Alter anzusteigen.
Aktivitäten, die man liebt, die man als bedeutungsvoll erlebt und in denen man sich mit den eigenen Stärken einbringen kann, werden als erfüllend erfahren. Zum Beispiel tragen auch generative Tätigkeiten, in denen Werte, Wissen und Erfahrungen weitergeben werden können, zur Erfüllung bei, indem Personen Sinnhaftigkeit erfahren, sich gebraucht fühlen und einen Impact im Leben anderer machen können.
Es gibt verschiedene Einstellungen und Eigenschaften, die für das Erfahren eines erfüllten Lebens vorteilhaft sind. Eine positive und hoffnungsvolle Sicht auf die Welt hilft uns proaktiv zu sein und das Leben bewusst zu gestalten, eigene Ziele zu verfolgen und Träume zu verwirklichen. Wenn wir das Leben als Geschenk betrachten und uns am Leben freuen (joie de vivre), werden wir das Leben auch eher als sinnhaft empfinden und etwas an die Gemeinschaft und das Wohlergehen zukünftiger Generationen beitragen wollen. Nicht zu vergessen ist die Eigenschaft Mut, die uns hilft, nach eigenen Werten und Überzeugungen zu leben, uns selbst treu zu bleiben, und persönlich Bedeutungsvolles durchzuziehen, auch wenn wir mit Rückschlägen konfrontiert sind. Das Erlangen eines erfüllten Lebens erfordert, dass wir auch Risiken eingehen, z.B. die eigene Komfortzone verlassen, um eine Chance im Leben zu packen. In der Regel wird nicht das bereut, was man gewagt hat und dann nicht geklappt hat, sondern man bereut, was man nicht gemacht hat und dass man zu wenig gewagt hat.
Erfüllend ist, wenn wir uns in Tätigkeiten und Aktivitäten ausdrücken können, aber auch, wenn wir das Gefühl haben, etwas Positives für andere zu bewirken. Wir können uns daher überlegen, wo wir vermehrt die eigenen Stärken in Kombination mit eigenen Interessen einsetzen und weiterentwickeln wollen. Was möchte man bewirken, wo oder für wen möchte man einen positiven Impact machen? Zudem können wir uns überlegen, ob wir den persönlich wirklich wichtigen Dingen, über einen längeren Zeitraum hinweggesehen, auch die entsprechende Priorität zukommen lassen. Für das Erreichen eines langfristig erfüllten Lebens kann auch helfen, das Leben vom Ende zu betrachten: Was würde wir am Ende unseres Lebens bereuen, wenn wir es nicht versucht hätten? Oder anders ausgedrückt: Auf was wollen wir im höheren Alter einmal zurückblicken können?
Grosse Erfüllung erlebe ich in meiner beruflichen Tätigkeit, die mir ermöglicht, das zu tun, was mir zu tiefst Freude macht, Themen zu untersuchen, die mich begeistern und dabei viel Sinnhaftigkeit zu erfahren. Es erfüllt mich auch sehr, mitzuerleben wenn sich Personen in meiner Familie oder in meinem Umfeld entfalten können und ihnen ihre Unterfangen gelingen. Sie dadurch einen Platz im Leben und in der Gesellschaft einnehmen, wo sie ihre Einzigartigkeit zeigen, ihre Potenziale realisieren und ihr Bestes geben können – für ihre eigene Erfüllung, aber auch zum Wohle der Gemeinschaft.