Meist harren Arbeitnehmende aus, bis sie in den Ruhestand treten – auch wenn sie keine Lust darauf haben oder eigentlich etwas ganz anderes machen möchten. Und viele wollen auch mit 70 noch arbeiten, finden aber keine Anstellung mehr. Es gibt jedoch Unternehmen, die flexible Pensionierungs- und Arbeitsmodelle eingeführt haben, die gerne und rege von der Belegschaft genutzt werden. Einige Beispiele.
(Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Nextavenue.org in englischer Sprache veröffentlicht.) Im vergangenen Mai ging Mike Ungar, 62, in den Ruhestand. Nach 35 Jahren im Management des Reifenherstellers Michelin North America freute sich Mike aus South Carolina darauf, ehrenamtlich zu arbeiten und mehr Zeit mit seinem damals zweijährigen Enkel zu verbringen.
Aber trotz dieser gut durchdachten Pläne dauerte Mikes Ruhestand nur etwa einen Monat. Ende Juni entdeckte er auf der Michelin-Rentnerseite ein Angebot, das er sich nicht entgehen lassen konnte: ein sechsmonatiges Projekt zum Thema «unterbewusste Vorurteile nach dem Mord an George Floyd und den Black-Lives-Matter-Protesten».
«Ich habe mich bei Michelin jahrelang stark für die Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion eingesetzt. Daher war das Thema dieses Projekts sehr wichtig für mich.», erklärt Mike. «Also habe ich mich angemeldet. Und einen Monat später klingelte das Telefon mit der frohen Nachricht, dass sie mich gerne mit im Team haben wollen.», erzählt Mike weiter.
Mike’s Sohn und seine Tochter arbeiten heute beide bei Michelin – und er hofft, dass seine Erfahrungen und sein Engagment ein Beispiel für seine Kinder und andere jüngere Mitarbeiter des Reifenherstellers sein wird. «Hoffentlich konnte ich dazu beitragen, eine Arbeitskultur zu schaffen, in welcher der Übergang in den Ruhestand flexibel gestaltet werden kann und in der akzeptiert wird, dass man im Pensionsalter noch arbeiten kann.»
Das Rückkehrerprogramm gibt es schon seit 12 Jahren. Und es wird rege genutzt: Schon Hunderte Michelin-Pensionäre haben bei kurz- oder langfristigen Projekten im Pensionsalter mitgewirkt. Das Programm steht allen offen – unabhängig davon, welchen Job sie vor der Pensionierung bei Michelin ausgeübt haben.
David Stafford, Vizepräsident für Personal und Human Resources bei Michelin Nordamerika, sagt, dass die Ruheständler des Unternehmens «einen reichen Fundus an Wissen und Fähigkeiten» mitbringen und gleichzeitig eine flexible Belegschaft ermöglichen.
Das Rückkehrerprogramm von Michelin ist eine Antwort auf die weltweit alternde Gesellschaft. Einer von vier Arbeitnehmenden ist heute 55 Jahre alt oder älter. Ironischerweise trennen sich heutzutage viele Unternehmen von älteren Mitarbeitenden, um Platz für Jüngere zu schaffen – und verlieren dabei oft Wissen, das jahrzehntelang angeeignet worden ist.
«Unternehmen messen nicht wirklich den Wert des geistigen Eigentums, welches in diesen Personen steckt», sagt Andres Tapia, globaler Stratege für Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion bei der Unternehmensberatung Korn Ferry. «Sie generieren grossartige Ideen und Erfahrungen, und dann spaziert das alles einfach zur Tür hinaus.»
Der Möbelhersteller Herman Miller hat im Jahr 2012 ein grosses Problem auf sich zukommen sehen: Mehr als ein Drittel der weltweit 8000 Mitarbeitenden war über 50 Jahre alt. Bei der Pensionierung so vieler Mitarbeitenden würde da sehr viel Manpower und Wissen verloren gehen.
Also startete das Unternehmen das FlexRetirement-Programm. Es ermöglicht Arbeitnehmern über 60 schrittweise in den Ruhestand zu gehen – über einen Zeitraum von sechs Monaten bis zwei Jahren.
Die Mitarbeitenden arbeiten während dieser Übergangsphase weniger und erhalten auch weniger Gehalt. Herman Miller nutzt dann die Kosteneinsparungen, um in neue Mitarbeitenden oder neue Technologie zu investieren.
«Wir lassen die FlexRetirement-Mitarbeitenden herausfinden und entscheiden, wie viel sie arbeiten wollen und wann sie in den Ruhestand gehen wollen», sagt Kim Chaumillon, Herman Millers Vizepräsident für Kultur und Engagement.
Bislang haben mehr als 200 Mitarbeiter am FlexRetirement-Programm teilgenommen, darunter auch Harris Hof, 65. Harris hat im vergangenen Juli mit dem Programm gestartet – mit dem Plan, bis zu seiner Pensionierung im kommenden August weniger arbeiten zu müssen und gleichzeitig doch noch ein wichiges Projekt abschliessen zu können. «Ich möchte das Programm bis zum Ende durchziehen. Und sobald wir jemanden für meine Position eingestellt haben, werde ich sie bis zu meiner Pensionierung einführen und betreuen.», sagt Harris.
Zusätzlich zum FlexRetirement-Programm bietet Herman Miller viele flexible Arbeitsmöglichkeiten für Mitarbeitende jeden Alters an: Jobsharing, flexible Arbeitszeiten und Sabbaticals.
Andere Unternehmen, darunter das britische Unternehmen Unilever, suchen nach Wegen, um die Anforderungen einer älteren Belegschaft mit den neuen Qualifikationsanforderungen des Unternehmens in Einklang zu bringen.
Letztes Jahr hat Unilever zwei davon gefunden und Pilotprojekte in fünf Ländern gestartet. Mit «U Work» können Mitarbeitende bei reduzierter Vergütung weniger Stunden arbeiten. Mit dem Pilotprojekt «U Renew» können die Mitarbeitenden ein bezahltes Sabbatical nehmen, um sich für andere Jobs umschulen zu lassen.
«Wir müssen den Übergang in den Ruhestand besser gestalten, als er ist», sagt Placid Jovar, Vice President Human Resources bei Unilever. «Genauso wichtig ist es, dass wir Menschen ermöglichen, über die Pensionierungsgrenze hinaus zu arbeiten – weil sie es finanziell müssen oder weil sie es wollen.»
Während der Pandemie wurden weltweit Millionen von Arbeitsplätzen abgebaut. Laut Andres Tapia von Korn Ferry darf man jedoch guter Hoffnung sein: er meint, dass sich die Nachfrage nach Arbeitskräften erholen wird, sobald sich die Lage mit COVID-19 verbessert und sich die Wirtschaft stabilisiert hat.
Aus diesem Grund drängt er im Moment auch seine Kunden, über deren wandelnde Belegschaft nachzudenken und einen Wert und eine Kultur zu schaffen, der ältere Arbeitnehmer anerkennt und gleichzeitig Platz für Jüngere schafft.
Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Nextavenue.org in englischer Sprache veröffentlicht.
Foto: Herman Miller